Erziehungskunst Feb 98
Andi
Schier
Schule unterwegs - 90 Tage mit dem Fahrrad durch
Amerika
Titelfoto der Erziehungskunstausgabe
Vom 16. August bis 15. November 1997 unternahmen sechs Schüler
der 10. und 11. Klassen der Dietzenbacher und Engelberger Waldorfschulen
und ihr Reiselehrer eine Fahrradtour durch die USA. Die Gruppe
radelte knapp 5.000 km, übernachtete in großen Städten
privat - teils bei Waldorfeltern - und zeltete auf dem Land, bei
einem regulären Tagesbudget von 84 Dollar (ungefähr
140,-- DM). Jeder Schüler brachte neben dem Fahrrad und der
Ausrüstung noch Taschengeld und 5.000,-- DM auf.
Das Lernziel der Fahrt
war - im Einklang mit den Zielen der Waldorfpädagogik - lebenswichtige
Fähigkeiten wie Unabhängigkeit, Hoffnung, Vertrauen
in die Welt, Durchhaltevermögen, Liebe zur Natur, kreatives
Handeln, mit dem Unbekannten leben lernen u. ä. zu fördern.
Diese Ziele konnten, der Natur der Fahrt und aller Teilnehmer
entsprechend, "nur" durch ein verändertes Schüler
- Lehrer Verhältnis erreicht werden. Der Lehrer war beispielsweise
Erziehungsberechtigter, andrerseits auch normaler Teilnehmer und
Mitgestalter. Als einziges Kommunikationsmittel zwischen Schülern
und Eltern war der Briefkontakt vereinbart.
23. August, Weehawken, New Jersey
Gestern morgen machten sich David - "wenn ich will, find
ich immer eine heiße Dusche!" - und Daniel von unserem
Übernachtungsplatz am Strand auf, um auf diesem überteuertem
KOA-Campingplatz eine Dusche zu nehmen. Nach einiger Zeit näherte
sich ein Polizist und sagte, daß David und Daniel für
das unerlaubte Betreten von Privatbesitz vorläufig festgenommen
worden waren. Dummerweise hatte jemand in der letzten Nacht eine
Dusche demoliert und der Eigentümer konnte sich noch an uns
erinnern, weil wir seine Preise als "unfreundlich" beurteilt
hatten.
Es dauerte noch einige
Zeit, bevor unsere Helden zurückkamen. Sie waren durch einen
Seiteneingang rein, wurden unter der Dusche stehend nach ihrem
Namen gefragt und dachten, daß nach Davids dreister Antwort
"David Schneider, Standplatz 3" alles glatt gehen würde.
Bis dann fünf Minuten später ein Polizist erschien und
sie in der Dusche verhaftete. Nach einigem hin und her unterschrieb
der Besitzer dann doch nicht die Anzeige und besonders David nahm
die Sache so locker, daß es vielleicht gar nicht schlecht
gewesen wäre, wenn die beiden eine Nacht in einer Zelle verbracht
hätten.
Wir fuhren dann erst
gegen 13 Uhr los und teilten uns in Zweiergruppen auf. Trystan
und David erschienen an unserem ersten Treffpunkt 40 km entfernt
in einem Auto! Trystan hatte einen Platten und keine Luftpumpe
(!) - ich werde von unserem Gruppengeld ein paar Luftpumpen kaufen.
An unserem nächsten Treffpunkt, weitere 30 km entfernt, war
es schon dunkel und außerdem zeigt es sich, daß Long
Island keine gute Gegend für wildes Zelten ist. Ein State
Park wiederum 30 km entfernt erschien die einzige Möglichkeit,
doch noch eine Zeltplatz zu finden. Auf dem Weg dorthin fuhren
wir hintereinander und ich ganz hinten, um das Fahrverhalten der
Schüler bei Dunkelheit und starkem Verkehr besser beobachten
zu können; ich werde von unserem Gruppengeld auch Leuchtwesten
kaufen, damit ich nicht mehr so viel beten muß.
Am State Park angekommen
stellte sich die Situation folgendermaßen dar: Wir hatten
an unserem fünften Radfahrtag erstaunliche 100 km hinter
uns gebracht, es war Mitternacht und wir mußten um 6 Uhr
morgens schon wieder aufstehen, um die 100 km nach und durch New
York City noch vor der Dunkelheit und dem Samstagabendverkehr
hinter uns zu bringen. Der State Park war geschlossen, leider
durch unpassierbare Tore und wir konnten nur eine Sandfläche
außerhalb der Umzäunung finden.
"Der Patz gefällt
mir nicht und ich habe keine Lust das Zelt für fünf
Stunden Schaf aufzubauen! Wie wäre es, wenn wir einfach die
Nacht durchfahren?" sagte Cosima auf einmal. "Ja, warum
nicht." - "Gute Idee!" - "Ja." Alle Schüler
waren sich einig und drehten sich zu mir um, da ich schweigend
zugehört hatte. "Wenn ihr tatsächlich noch weitere
100 km fahren wollt, dann habe ich nichts dagegen. Ich kann so
etwas nicht von Euch fordern, aber wenn Ihr es selber wollt -
hört sich gut an!" Damit war die Entscheidung gefallen;
die Schüler sind genauso verrückt wie ich!
So fuhren wir denn weiter
und es war inzwischen so spät, daß kaum noch Verkehr
auf den Straßen war. Später in der Nacht waren wir
die Sensation an einem 7/11 (kleiner 24 h Supermarkt). Junge Unistudenten
bombardierten uns mit Fragen und konnten es kaum fassen. Eine
Stunde lang wurde alle Kunde ungefähr so angesprochen: "Wartet,
bevor Ihr reingeht, müßt Ihr unbedingt diese Deutschen
treffen. Ihr glaubt nicht, was für eine Reise sie machen
und erst recht nicht, wie alt sie sind!" Besonders Cosimas
Alter von 15 Jahren wurde meist um die Hälfte höher
eingeschätzt und Livia und Sarah sehen zwar wirklich gut,
aber nicht gerade physisch kräftig, aus. Daniel gönnte
sich ein Nickerchen auf dem Asphalt, Trystan verwirrte die Amis
mit seinen exzellenten Englischkenntnissen und David war in seinem
Element, neue Leute kennenzulernen und sein Englisch zu erweitern.
wir geben viel Geld für Essen aus
Während ich erstaunlicherweise
überhaupt nicht müde wurde und unsere Nachtfahrt und
meine unglaublichen Schüler vor mir genoß, wurde es
für einzelne zunehmend schwieriger. Daniel und Cosima hatten
Schwierigkeiten nicht auf dem Fahrrad sitzend einzuschlafen! Livia
dagegen erwies sich als besonders zäh. Um 5 Uhr morgens erreichten
wir den äußersten Stadtrand von New York City und um
8 Uhr den Central Park, wo sich die Schüler dann etwas ausruhen
konnten, während ich Uli und Roswitha, Freunde von Davids
Eltern uns unsere nächsten Gastgeber, von unserer Ankunft
in drei anstatt dreißig Stunden benachrichtigte..
Unser letzter Stop war
bei McDonalds in Spanish Harlem. Trystan und ich blieben zusammen
draußen, um unsere Fahrräder zu bewachen, bekamen unser
Frühstück dort serviert und während Trystan sich
hervorragend mit einem Obdachlosen unterhielt, der jedem Kunden
die Tür aufhielt und dafür hin und wieder etwas Kleingeld
bekam, beobachtete ich die Umgebung und wunderte mich, wie sie
wohl auf die Schüler wirkte. Ich fragt Livia dann danach,
die mit 15 ja die jüngste in unserer Gruppe ist und alleine
an einem Tisch frühstückte, und sie fand ihren ersten
Eindruck von New York einfach interessant und spannend; wow, diese
Schüler überraschen mich ein ums andere Mal.
Die nächste Überraschung
kam dann auch bald. Auf den letzten 20 km übernahm ich die
Führung und Sarah fuhr direkt hinter mir und wollte ein schnelleres
Tempo. Sie war sogar bereit einen kleinen Umweg zu fahren, damit
wir auf jeden Fall 200 km fahren würden, und nicht etwa nur
198. Als wir schließlich nach 199,62 km ankamen war sie
aber doch bereit auf die Ehrenrunde, die niemand sonst für
erstrebenswert hielt, zu verzichten.
18. September, Frisco, Colorado
Jetzt sind wir wirklich mitten in den Rocky Mountains! Heute
morgen, als wir nach einer kühlen Nacht auf 3.000 Meter Höhe
aufwachten, war das Wasser immer noch tief gefroren. Ich war,
teils im Gegensatz zu anderen, voll Vorfreude über den letzten
Anstieg hinauf zum Lovelandpaß auf stolze 3.600 m. Die letzten
Kilometer Autobahn bis zur Abzweigung waren relativ einfach, obwohl
uns die große Höhe und der Gegenwind weiterhin Probleme
bereiteten. Es stellte sich heraus, daß im Eisenhower Tunnel
heute Straßenarbeiten vorgenommen wurden und alle schweren
Trucks den Paß benutzen mußten.
Die Schüler konnten
selbst entscheiden, ob sie durch den Tunnel trampen oder den Paß
fahren wollten. Cosima entschied sich fürs Trampen und ein
Blick in ihr Gesicht zeigte die Richtigkeit der Entscheidung.
Daniel fühlte sich ebenfalls nicht auf der Höhe und
begleitete Cosima. Der LKW-Verkehr war dann gar nicht so schlimm
und auch der Paß selbst war zwar hart, aber genießenswert.
Oben angekommen setzten wir uns für lange Zeit in den Windschatten,
während David grad noch 300 Höhenmeter zum nächsten
Gipfel per Fuß erledigte. Meine Hoffnung, daß ihn
das endlich mal richtig müde und zufrieden macht, scheint
sich heute abend zu erfüllen. Wir haben natürlich wieder
ausgiebig Fotos gemacht und ich habe vergessen Daniels Kamera
zu benutzen, die er mir extra dafür mitgegeben hatte.
Die Abfahrt war nicht
so steil wie erhofft und wäre fast "langweilig"
gewesen, aber glücklicherweise waren da die LKWs und es hat
einen Heidenspaß gemacht, ein paar von den langen Dinger
zu überholen. Als Treffpunkt hatten wir Burger King in Dillon
ausgemacht und Daniel und Cosima freuten sich riesig, als wir
ankamen und konnten uns gar nicht schnell genug von ihren Erlebnissen
erzählen. Das Trampen war super gelaufen und sie hatten auch
noch einen verrückten Montainbiker getroffen, der ihnen neben
Geschichten auch noch alle notwendigen Informationen über
Supermärkte und Zeltplätze geliefert hatte. Wir mußten
sie aber bald auf etwas später vertrösten, denn wir
waren einfach zu kaputt und hungrig, als daß wir den aufgeregten
Worten wirklich folgen konnten.
"wild" Zelten
Unser heutiger Zeltplatz,
nur 15 km vom Burger King entfernt, liegt in einem Naturpark,
in dem Fahrräder verboten sind, aber wir kamen wieder erst
spät an - heute immerhin schon bei Einbruch der Dunkelheit
- und konnten nichts anderes mehr finden. Falls sich jemand beschwert
- wir campen außerdem viel zu nahe am Bach, werden wir hoffentlich
mal wieder Gnade vor Recht erfahren, da wir so eine außergewöhnliche
Fahrt wagen und zudem noch ausländische Gäste sind.
1. Oktober, Moab, Utah
In letzter Zeit hatten sich die Spannungen zwischen einzelnen
Schülern so verstärkt, daß es Zeit wurde "Pow
Wows" einzuführen. Ich hatte es schon angekündigt
und teilte Trystan und David mit, daß heute ihr Tag gekommen
sei. Als Umgebung wähle ich ein Restaurant.
Zuerst erklärte
ich ihnen, daß das Konzept des Pow Wows von den Indianern
Nordamerikas kommt und als Gespräch übersetzt werden
kann. Im Gegensatz zur Diskussion geht es nicht darum, andere
durch Argumente zu überzeugen, sondern Raum zu lassen und
vom Herzen kommend Verständnis zu erzeugen. Im Verlaufe des
Pow Wows bat ich sie sich gegenseitig zu erzählen, warum
ihre große Freundschaft so plötzlich erkaltet war,
was sie am anderen nervt und was sie schätzen. Beide gingen
mit viel Gefühl und Offenheit an dieses Gespräch und
ich war tief berührt von dieser Fähigkeit, noch dazu
weil ich als Zuhörer dabei war; ich selbst hätte so
etwas in ihrem Alter nicht gekonnt.
Am Ende war klar, daß
die Spannungen weiter bestehen, aber mehr Verstehen vorhanden
ist und zudem ein Pow Wow etwas durchaus Angenehmes sein kann.
Die Jungs machten sich dann auf den Rückweg, während
ich noch meinen Gedanken nachhängen wollte und eine Kneipe
aufsuchte, um dort in aller Ruhe ein gutes Bier zu trinken.
Porcupine Ridge Trail, Moab, Utah
Als ich gegen 22 Uhr
zurückkehrte, fing mich Trystan vor der Tür unserer
kleinen Holzhütte ab und erzählte, daß David und
er die anderen genatzt hätten. Dreist wie sie sein können
hatten sie eine Geschichte erfunden, daß das Pow Wow ein
Reinfall war und ich daraufhin völlig verärgert erklärt
hätte, daß ich gedenke die Fahrt abzubrechen. Die Reaktion
der anderen war größte Bestürztheit und der Wunsch
die Sache noch irgendwie umzubiegen. Trystan meinte ich müsse
mitspielen und da ich kaum glauben konnte, daß die anderen
auf so einen Unsinn hereinfallen konnten, machte ich für
eine Weile mit.
Es war schon witzig.
Ich bat Trystan dann, mir doch mal Daniel zu schicken. Der Arme
mußte ein Stück hinter mir hergehen, einen langen,
schweren Blick aushalten und dann meine Frage beantworten: "Daniel,
ich bin sehr enttäuscht von Dir! Weißt Du warum?"
- (Daniel:) "Weil ich nicht gespült habe?" Hah,
das war ja noch besser, (Andi:) "wie, Du hast nicht gespült?
Aber das war doch abgesprochen!" Es folgte eine längere,
gut Erklärung und danach fiel ihm nichts mehr ein, warum
ich so enttäuscht war. Zeit, die Katze aus dem Sack zu lassen.
"Ich bin sehr enttäuscht von Dir, weil ich dachte, Du
würdest mich inzwischen besser kennen. Selbst wenn das Pow
Wow so schlecht gelaufen wäre, würde ich doch nicht
unsere geniale Fahrt abbrechen. Wie kannst Du nur so einen Schwachsinn
glauben?" - (Daniel:) "Oh Mann, ich hab's mir doch irgendwie
gedacht, diese Arschlöcher, die kriegen was zu hören!"
Ich konnte ihn gerade noch zurückhalten und als Mitspieler
gewinnen.
Den anderen erging
es dann ähnlich und endlich konnten wir alle über Trystan
und David herfallen. Es war geil, diese Erleichterung mitzuerleben
und den Jungs Saures zu geben. Inzwischen haben sich alle beruhigt,
aber ich wundere mich weiterhin, warum sie den Braten nicht gleich
gerochen haben. Zugegeben, Trystan ist ein geborener Schauspieler
und auch David ist gut, wenn er keinen Text lernen muß,
aber trotzdem. Wir müssen noch mehr am Vertrauen arbeiten,
denn so gut es auch schon ist, es reicht noch nicht.
Daniel, unser Mountainbikekönig
15. Oktober, Kingman, Arizona
Was für ein Tag! Kürzlich wurde mir klar, daß
ich, trotz des hervorragenden Verlaufs der Fahrt und insbesondere
des wunderbaren Verhältnisses zu den Schülern, nur selten
meine Verwundbarkeit offen und gelassen zeige. Heute, am vielleicht
tiefsten Punkt der Reise, hatte ich den Mut dazu.
Abends saßen
wir vor dem Supermarkt, um die notwendigen Vorbereitungen zu besprechen.
Cosima hatte einen privaten Übernachtungsplatz mit Küchenbenutzung
und Dusche organisiert, aber wenn wir den nutzten, kämen
wir nicht vorwärts und die Schüler wollen unbedingt
mehr Zeit in Los Angeles und San Francisco haben. Die Gruppenbesprechung
zeigte sich wieder einmal als schwierigster Bestandteil der Fahrt,
weil dauernd jemand aus der Rolle fällt oder keine Einigung
über eine Entscheidung zu erzielen ist. Zudem kamen heute
noch mehr als in den letzten Tagen Kommentare über zu große
Hitze - dabei haben wir erstmals eine Woche ohne Regen (!) - wie
schön es wäre zu trampen usw. .
Nach einiger Zeit nahm ich die Gesprächsführung in die
Hand, um endlich zu Entscheidungen zu kommen und dann einkaufen
zu können. Daniel sagte dauernd, daß er bei Pizza Hut
essen möchte und irgendwann reichte es mir und ich schnauzte
ihn an, daß er lieber den Mund halten sollte, wenn er nichts
zum Gespräch beizutragen hätte. Damit verletzte ich
ihn, er fühlte sich ungerecht behandelt und verzog sich in
eine Ecke. Um Druck auf ihn auszuüben teilte ich ihm mit,
daß die Besprechung erst dann weiter gehe, wenn er wieder
teilnehme und daß bis dahin alle auf ihn warten müßten.
100 km "Nichts"
Entnervt ging ich in
den Supermarkt, um meine Kopfschmerzen durch einen Kaffee zu behandeln.
Dabei ging mir die Auseinandersetzung und die derzeitige Gruppensituation
durch den Kopf und mir wurde klar, daß wir uns einiger Dinge
wieder bewußter werden mußten. Auf dem Parkplatz war
Daniel inzwischen zur Gruppe zurückgekehrt und als erstes
entschuldigte ich mich bei ihm, denn gerade als ich ihn anschnauzte,
war sein Spruch über Pizza Hut angebracht; aber dafür
hatte ich kein Ohr gehabt.
Anschließend teilte
ich den Schülern mit, daß ich etwas Grundsätzliches
zu sagen hätte, bevor der Einkaufsplan zu Ende besprochen
würde: "Ich weiß nicht ob es Euch klar ist, aber
ich finde, daß unsere Fahrt total geil läuft, auch
wenn wir gerade unseren vielleicht größten Tiefpunkt
haben und ich weiß jetzt schon, daß ich traurig sein
werde, wenn die Fahrt in einem Monat zu Ende ist und daß
ich Euch sehr vermissen werde, wenn Ihr allein nach Frankfurt
zurückfliegt. (Pause) Ihr habt schon des öfteren von
mir gehört, daß wir alle die Fahrt gestalten und wir
haben uns vor der Reise überlegt, wieviel wir fahren wollen.
Zur Zeit höre ich aber fast nur Klagen und daß Ihr
trampen wollt. Es ist, als wenn Ihr erwartet, daß Ihr Euch
gehen lassen könnt und ich die Fahrt alleine halte. Aber
ich habe im Moment einfach nicht die Kraft dazu und wenn ihr wirklich
trampen wollt, dann müssen wir uns darüber unterhalten
und es vielleicht wirklich tun."
Es war unglaublich,
aber nach kurzer Überlegung sagten auf einmal alle, daß
sie die gesamte Strecke fahren wollen! Es war, als wenn sie auf
einmal wieder aus ihrer eher passiven, fremdbestimmten Schülerhaltung
herausgekommen wären und sich bewußt wurden, daß
sie nicht auf Druck von außen reagieren, sondern selbst
entscheiden, ob sie die Durchquerung der Mojave Wüste per
Fahrrad bewältigen wollten oder nicht. In solchen Momenten
frage ich mich, warum es nicht gleich so geht und wieviel ich
selbst dazu beitrage.
6. November, San Francisco, Kalifornien
am Pazifik angekommen
Wir haben unsere letzte Reisestation erreicht und es war ein
denkwürdiger Tag. Trystan und ich begannen um 6 Uhr morgens
unseren Vorsatz vom Abend in die Tat umzusetzen: "Heute werden
wir sterben!" Selbst mit dem frühen Aufstehen schien
es eine Tortur, die 170 km nach San Fran an einem Tag zu fahren,
besonders, weil wir in den letzten sechs Tagen ja bereits 650
km hinter uns gebracht hatten.
Das Mitgefühl der
anderen war durchaus angebracht, obwohl auch sie eine schwierige
Aufgabe vor sich hatten. Immerhin mußten sie die 170 km
trampen und früh genug an der Waldorfschule ankommen, um
noch unsere Unterkunft zu organisieren; alle drei Mädchen
haben ihre Tage, Daniels Gepäckträger ist gebrochen
und David hat eine schwere Erkältung. Die Wolken hatten sich
weiter verdichtet und es war deutlich, daß unsere Wetterbeobachtungen
korrekt waren, denn auch der Wind blies weiterhin von Südwest:
Regen war zu erwarten und wir wollten deshalb nicht noch eine
weitere Nacht zelten.
Die ersten 15 km waren
übel und erstaunlicherweise war ich wieder bereit für
große Taten, nachdem wir uns den ersten Berg heraufgequält
hatten. Wenig später fuhr dann hupend ein VW Bus mit Livia,
Sarah, Cosima und Daniel an uns vorbei. In Santa Cruz gönnten
wir uns ein herzhaftes, warmes Frühstück und als ich
dann das Oberstufensekreteriat der Schule anrief, um unsere um
einen Tag verfrühte Ankunft anzukündigen, da sprach
der Anrufbeantworter, daß die Oberstufe die ganze Woche
nicht da sei. Okay, wir waren also wieder mal dabei etwas Aufregung
in eine Waldorfschule zu bringen. Ich hatte aber keinerlei Bedenken,
daß die anderen die Lage nicht bewältigen könnten
und onzentrierte mich völlig auf unsere Treterei.
Bis Half Moon Bay, Kilometer
130, schnackelten wir nur so, die letzten 40 km nach San Francisco
schienen wie eine Butterfahrt und uns war klar, daß wir
heute doch nicht sterben würden. Auf einmal brach Trystans
hintere Felge! Sie war nicht mehr zu reparieren und Trystan konnte
es nicht fassen. Er wollte unbedingt die gesamte Strecke fahren.
Als letzten Ausweg sah er den Kauf einer neuen Felge. Also machte
ich mich auf die Suche nach einem Radladen und fand tatsächlich
noch einen, so daß ich bei inzwischen strömendem Regen
zu ihm zurückkehren konnte. Der Arme hatte sich eine Mülltüte
als Regenschutz übergezogen und fror heftig.
Kurz darauf endete der
Radweg mitten in einem Wohngebiet am Meer und wir mußten
einen langen, supersteilen Berg erklettern. Zu diesem Zeitpunkt
fuhren wir nur noch auf ankommen und sahen uns als Charaktere
in einem Abenteuerfilm. Die Frage war einfach, "was kommt
als nächstes?" Erst kam dichter Nebel, dann wieder Regen
und es wurde so kalt, daß wir eine weitere Essenspause im
Warmen einlegen mußten. Endlich erreichten wir den Strand
von San Francisco und Trystan steckte sich Blumen ins Haar.
Die Tramperei der anderen war so gut gelaufen, daß alle
bis direkt vor die Tür gebracht worden waren. In der Schule
wußte allerdings niemand Bescheid, da unser Kontaktlehrer
ja nicht da war und außerdem niemandem etwas von unserer
bevorstehenden Ankunft berichtet hatte. Die Schüler gingen
daraufhin ungetrübt die verschiedenen Möglichkeiten
für einen Übernachtungsplatz durch, während einige
Leute in der Schule erstmal etwas verstört waren. Ich kann
sie ja auch gut verstehen, denn normalerweise ist alles gut durchorganisiert
und der Lehrer erscheint zuerst und bespricht alles notwendige,
aber unsere Fahrt per Fahrrad läßt keine exakte Planung
zu und außerdem finde ich es wunderbar, daß die Schüler
mich nicht brauchen und die Dinge selbstbewußt selber klären.
Es war nicht möglich in der Schule zu übernachten und
schließlich erklärte sich eine Sekretärin bereit,
daß wir in ihrem Minigarten für eine Nacht zelten könnten.
Sarah mit fliegendem Skateboard
16. Dezember, Offenbach, Deutschland
Vor zwei Tagen bin ich auch wieder in D angekommen und mehrere
Schüler und Eltern haben mich am Flughafen abgeholt. Das
Wiedersehen war herrlich und wir haben den ganzen Tag mit Fotos,
Erinnerungen und dem Erzählen von Neuigkeiten verbracht.
Schüler und Eltern sind sich einig, wie unglaublich reichhaltig
und tief beeindruckend die Erfahrungen waren und für die
Zukunft bleiben werden. Die Schüler berichteten weiterhin,
wie sie jetzt von Fremden anders, respektvoller behandelt werden.
Und Johnanna, die an der Frühlingsfahrt, wieder in die USA,
teilnehmen wird, brachte ihre Beobachtungen bei der Rückkehr
der "Gang" wohl am schönsten zum Ausdruck: "Die
sind so schön geworden!"
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