Schule unterwegs
90 Tage mit dem Fahrrad durch Amerika

Erziehungskunst Feb 98

Andi Schier

Schule unterwegs - 90 Tage mit dem Fahrrad durch Amerika



Titelfoto der Erziehungskunstausgabe

Vom 16. August bis 15. November 1997 unternahmen sechs Schüler der 10. und 11. Klassen der Dietzenbacher und Engelberger Waldorfschulen und ihr Reiselehrer eine Fahrradtour durch die USA. Die Gruppe radelte knapp 5.000 km, übernachtete in großen Städten privat - teils bei Waldorfeltern - und zeltete auf dem Land, bei einem regulären Tagesbudget von 84 Dollar (ungefähr 140,-- DM). Jeder Schüler brachte neben dem Fahrrad und der Ausrüstung noch Taschengeld und 5.000,-- DM auf.
        Das Lernziel der Fahrt war - im Einklang mit den Zielen der Waldorfpädagogik - lebenswichtige Fähigkeiten wie Unabhängigkeit, Hoffnung, Vertrauen in die Welt, Durchhaltevermögen, Liebe zur Natur, kreatives Handeln, mit dem Unbekannten leben lernen u. ä. zu fördern. Diese Ziele konnten, der Natur der Fahrt und aller Teilnehmer entsprechend, "nur" durch ein verändertes Schüler - Lehrer Verhältnis erreicht werden. Der Lehrer war beispielsweise Erziehungsberechtigter, andrerseits auch normaler Teilnehmer und Mitgestalter. Als einziges Kommunikationsmittel zwischen Schülern und Eltern war der Briefkontakt vereinbart.


23. August, Weehawken, New Jersey

Gestern morgen machten sich David - "wenn ich will, find ich immer eine heiße Dusche!" - und Daniel von unserem Übernachtungsplatz am Strand auf, um auf diesem überteuertem KOA-Campingplatz eine Dusche zu nehmen. Nach einiger Zeit näherte sich ein Polizist und sagte, daß David und Daniel für das unerlaubte Betreten von Privatbesitz vorläufig festgenommen worden waren. Dummerweise hatte jemand in der letzten Nacht eine Dusche demoliert und der Eigentümer konnte sich noch an uns erinnern, weil wir seine Preise als "unfreundlich" beurteilt hatten.
       Es dauerte noch einige Zeit, bevor unsere Helden zurückkamen. Sie waren durch einen Seiteneingang rein, wurden unter der Dusche stehend nach ihrem Namen gefragt und dachten, daß nach Davids dreister Antwort "David Schneider, Standplatz 3" alles glatt gehen würde. Bis dann fünf Minuten später ein Polizist erschien und sie in der Dusche verhaftete. Nach einigem hin und her unterschrieb der Besitzer dann doch nicht die Anzeige und besonders David nahm die Sache so locker, daß es vielleicht gar nicht schlecht gewesen wäre, wenn die beiden eine Nacht in einer Zelle verbracht hätten.
       Wir fuhren dann erst gegen 13 Uhr los und teilten uns in Zweiergruppen auf. Trystan und David erschienen an unserem ersten Treffpunkt 40 km entfernt in einem Auto! Trystan hatte einen Platten und keine Luftpumpe (!) - ich werde von unserem Gruppengeld ein paar Luftpumpen kaufen. An unserem nächsten Treffpunkt, weitere 30 km entfernt, war es schon dunkel und außerdem zeigt es sich, daß Long Island keine gute Gegend für wildes Zelten ist. Ein State Park wiederum 30 km entfernt erschien die einzige Möglichkeit, doch noch eine Zeltplatz zu finden. Auf dem Weg dorthin fuhren wir hintereinander und ich ganz hinten, um das Fahrverhalten der Schüler bei Dunkelheit und starkem Verkehr besser beobachten zu können; ich werde von unserem Gruppengeld auch Leuchtwesten kaufen, damit ich nicht mehr so viel beten muß.
        Am State Park angekommen stellte sich die Situation folgendermaßen dar: Wir hatten an unserem fünften Radfahrtag erstaunliche 100 km hinter uns gebracht, es war Mitternacht und wir mußten um 6 Uhr morgens schon wieder aufstehen, um die 100 km nach und durch New York City noch vor der Dunkelheit und dem Samstagabendverkehr hinter uns zu bringen. Der State Park war geschlossen, leider durch unpassierbare Tore und wir konnten nur eine Sandfläche außerhalb der Umzäunung finden.
       "Der Patz gefällt mir nicht und ich habe keine Lust das Zelt für fünf Stunden Schaf aufzubauen! Wie wäre es, wenn wir einfach die Nacht durchfahren?" sagte Cosima auf einmal. "Ja, warum nicht." - "Gute Idee!" - "Ja." Alle Schüler waren sich einig und drehten sich zu mir um, da ich schweigend zugehört hatte. "Wenn ihr tatsächlich noch weitere 100 km fahren wollt, dann habe ich nichts dagegen. Ich kann so etwas nicht von Euch fordern, aber wenn Ihr es selber wollt - hört sich gut an!" Damit war die Entscheidung gefallen; die Schüler sind genauso verrückt wie ich!
       So fuhren wir denn weiter und es war inzwischen so spät, daß kaum noch Verkehr auf den Straßen war. Später in der Nacht waren wir die Sensation an einem 7/11 (kleiner 24 h Supermarkt). Junge Unistudenten bombardierten uns mit Fragen und konnten es kaum fassen. Eine Stunde lang wurde alle Kunde ungefähr so angesprochen: "Wartet, bevor Ihr reingeht, müßt Ihr unbedingt diese Deutschen treffen. Ihr glaubt nicht, was für eine Reise sie machen und erst recht nicht, wie alt sie sind!" Besonders Cosimas Alter von 15 Jahren wurde meist um die Hälfte höher eingeschätzt und Livia und Sarah sehen zwar wirklich gut, aber nicht gerade physisch kräftig, aus. Daniel gönnte sich ein Nickerchen auf dem Asphalt, Trystan verwirrte die Amis mit seinen exzellenten Englischkenntnissen und David war in seinem Element, neue Leute kennenzulernen und sein Englisch zu erweitern.



wir geben viel Geld für Essen aus


       Während ich erstaunlicherweise überhaupt nicht müde wurde und unsere Nachtfahrt und meine unglaublichen Schüler vor mir genoß, wurde es für einzelne zunehmend schwieriger. Daniel und Cosima hatten Schwierigkeiten nicht auf dem Fahrrad sitzend einzuschlafen! Livia dagegen erwies sich als besonders zäh. Um 5 Uhr morgens erreichten wir den äußersten Stadtrand von New York City und um 8 Uhr den Central Park, wo sich die Schüler dann etwas ausruhen konnten, während ich Uli und Roswitha, Freunde von Davids Eltern uns unsere nächsten Gastgeber, von unserer Ankunft in drei anstatt dreißig Stunden benachrichtigte..
       Unser letzter Stop war bei McDonalds in Spanish Harlem. Trystan und ich blieben zusammen draußen, um unsere Fahrräder zu bewachen, bekamen unser Frühstück dort serviert und während Trystan sich hervorragend mit einem Obdachlosen unterhielt, der jedem Kunden die Tür aufhielt und dafür hin und wieder etwas Kleingeld bekam, beobachtete ich die Umgebung und wunderte mich, wie sie wohl auf die Schüler wirkte. Ich fragt Livia dann danach, die mit 15 ja die jüngste in unserer Gruppe ist und alleine an einem Tisch frühstückte, und sie fand ihren ersten Eindruck von New York einfach interessant und spannend; wow, diese Schüler überraschen mich ein ums andere Mal.
       Die nächste Überraschung kam dann auch bald. Auf den letzten 20 km übernahm ich die Führung und Sarah fuhr direkt hinter mir und wollte ein schnelleres Tempo. Sie war sogar bereit einen kleinen Umweg zu fahren, damit wir auf jeden Fall 200 km fahren würden, und nicht etwa nur 198. Als wir schließlich nach 199,62 km ankamen war sie aber doch bereit auf die Ehrenrunde, die niemand sonst für erstrebenswert hielt, zu verzichten.

18. September, Frisco, Colorado

Jetzt sind wir wirklich mitten in den Rocky Mountains! Heute morgen, als wir nach einer kühlen Nacht auf 3.000 Meter Höhe aufwachten, war das Wasser immer noch tief gefroren. Ich war, teils im Gegensatz zu anderen, voll Vorfreude über den letzten Anstieg hinauf zum Lovelandpaß auf stolze 3.600 m. Die letzten Kilometer Autobahn bis zur Abzweigung waren relativ einfach, obwohl uns die große Höhe und der Gegenwind weiterhin Probleme bereiteten. Es stellte sich heraus, daß im Eisenhower Tunnel heute Straßenarbeiten vorgenommen wurden und alle schweren Trucks den Paß benutzen mußten.
       Die Schüler konnten selbst entscheiden, ob sie durch den Tunnel trampen oder den Paß fahren wollten. Cosima entschied sich fürs Trampen und ein Blick in ihr Gesicht zeigte die Richtigkeit der Entscheidung. Daniel fühlte sich ebenfalls nicht auf der Höhe und begleitete Cosima. Der LKW-Verkehr war dann gar nicht so schlimm und auch der Paß selbst war zwar hart, aber genießenswert.
Oben angekommen setzten wir uns für lange Zeit in den Windschatten, während David grad noch 300 Höhenmeter zum nächsten Gipfel per Fuß erledigte. Meine Hoffnung, daß ihn das endlich mal richtig müde und zufrieden macht, scheint sich heute abend zu erfüllen. Wir haben natürlich wieder ausgiebig Fotos gemacht und ich habe vergessen Daniels Kamera zu benutzen, die er mir extra dafür mitgegeben hatte.
       Die Abfahrt war nicht so steil wie erhofft und wäre fast "langweilig" gewesen, aber glücklicherweise waren da die LKWs und es hat einen Heidenspaß gemacht, ein paar von den langen Dinger zu überholen. Als Treffpunkt hatten wir Burger King in Dillon ausgemacht und Daniel und Cosima freuten sich riesig, als wir ankamen und konnten uns gar nicht schnell genug von ihren Erlebnissen erzählen. Das Trampen war super gelaufen und sie hatten auch noch einen verrückten Montainbiker getroffen, der ihnen neben Geschichten auch noch alle notwendigen Informationen über Supermärkte und Zeltplätze geliefert hatte. Wir mußten sie aber bald auf etwas später vertrösten, denn wir waren einfach zu kaputt und hungrig, als daß wir den aufgeregten Worten wirklich folgen konnten.



"wild" Zelten


       Unser heutiger Zeltplatz, nur 15 km vom Burger King entfernt, liegt in einem Naturpark, in dem Fahrräder verboten sind, aber wir kamen wieder erst spät an - heute immerhin schon bei Einbruch der Dunkelheit - und konnten nichts anderes mehr finden. Falls sich jemand beschwert - wir campen außerdem viel zu nahe am Bach, werden wir hoffentlich mal wieder Gnade vor Recht erfahren, da wir so eine außergewöhnliche Fahrt wagen und zudem noch ausländische Gäste sind.


1. Oktober, Moab, Utah

In letzter Zeit hatten sich die Spannungen zwischen einzelnen Schülern so verstärkt, daß es Zeit wurde "Pow Wows" einzuführen. Ich hatte es schon angekündigt und teilte Trystan und David mit, daß heute ihr Tag gekommen sei. Als Umgebung wähle ich ein Restaurant.
       Zuerst erklärte ich ihnen, daß das Konzept des Pow Wows von den Indianern Nordamerikas kommt und als Gespräch übersetzt werden kann. Im Gegensatz zur Diskussion geht es nicht darum, andere durch Argumente zu überzeugen, sondern Raum zu lassen und vom Herzen kommend Verständnis zu erzeugen. Im Verlaufe des Pow Wows bat ich sie sich gegenseitig zu erzählen, warum ihre große Freundschaft so plötzlich erkaltet war, was sie am anderen nervt und was sie schätzen. Beide gingen mit viel Gefühl und Offenheit an dieses Gespräch und ich war tief berührt von dieser Fähigkeit, noch dazu weil ich als Zuhörer dabei war; ich selbst hätte so etwas in ihrem Alter nicht gekonnt.
       Am Ende war klar, daß die Spannungen weiter bestehen, aber mehr Verstehen vorhanden ist und zudem ein Pow Wow etwas durchaus Angenehmes sein kann. Die Jungs machten sich dann auf den Rückweg, während ich noch meinen Gedanken nachhängen wollte und eine Kneipe aufsuchte, um dort in aller Ruhe ein gutes Bier zu trinken.



Porcupine Ridge Trail, Moab, Utah

       Als ich gegen 22 Uhr zurückkehrte, fing mich Trystan vor der Tür unserer kleinen Holzhütte ab und erzählte, daß David und er die anderen genatzt hätten. Dreist wie sie sein können hatten sie eine Geschichte erfunden, daß das Pow Wow ein Reinfall war und ich daraufhin völlig verärgert erklärt hätte, daß ich gedenke die Fahrt abzubrechen. Die Reaktion der anderen war größte Bestürztheit und der Wunsch die Sache noch irgendwie umzubiegen. Trystan meinte ich müsse mitspielen und da ich kaum glauben konnte, daß die anderen auf so einen Unsinn hereinfallen konnten, machte ich für eine Weile mit.
       Es war schon witzig. Ich bat Trystan dann, mir doch mal Daniel zu schicken. Der Arme mußte ein Stück hinter mir hergehen, einen langen, schweren Blick aushalten und dann meine Frage beantworten: "Daniel, ich bin sehr enttäuscht von Dir! Weißt Du warum?" - (Daniel:) "Weil ich nicht gespült habe?" Hah, das war ja noch besser, (Andi:) "wie, Du hast nicht gespült? Aber das war doch abgesprochen!" Es folgte eine längere, gut Erklärung und danach fiel ihm nichts mehr ein, warum ich so enttäuscht war. Zeit, die Katze aus dem Sack zu lassen. "Ich bin sehr enttäuscht von Dir, weil ich dachte, Du würdest mich inzwischen besser kennen. Selbst wenn das Pow Wow so schlecht gelaufen wäre, würde ich doch nicht unsere geniale Fahrt abbrechen. Wie kannst Du nur so einen Schwachsinn glauben?" - (Daniel:) "Oh Mann, ich hab's mir doch irgendwie gedacht, diese Arschlöcher, die kriegen was zu hören!" Ich konnte ihn gerade noch zurückhalten und als Mitspieler gewinnen.
        Den anderen erging es dann ähnlich und endlich konnten wir alle über Trystan und David herfallen. Es war geil, diese Erleichterung mitzuerleben und den Jungs Saures zu geben. Inzwischen haben sich alle beruhigt, aber ich wundere mich weiterhin, warum sie den Braten nicht gleich gerochen haben. Zugegeben, Trystan ist ein geborener Schauspieler und auch David ist gut, wenn er keinen Text lernen muß, aber trotzdem. Wir müssen noch mehr am Vertrauen arbeiten, denn so gut es auch schon ist, es reicht noch nicht.


Daniel, unser Mountainbikekönig

15. Oktober, Kingman, Arizona

Was für ein Tag! Kürzlich wurde mir klar, daß ich, trotz des hervorragenden Verlaufs der Fahrt und insbesondere des wunderbaren Verhältnisses zu den Schülern, nur selten meine Verwundbarkeit offen und gelassen zeige. Heute, am vielleicht tiefsten Punkt der Reise, hatte ich den Mut dazu.
        Abends saßen wir vor dem Supermarkt, um die notwendigen Vorbereitungen zu besprechen. Cosima hatte einen privaten Übernachtungsplatz mit Küchenbenutzung und Dusche organisiert, aber wenn wir den nutzten, kämen wir nicht vorwärts und die Schüler wollen unbedingt mehr Zeit in Los Angeles und San Francisco haben. Die Gruppenbesprechung zeigte sich wieder einmal als schwierigster Bestandteil der Fahrt, weil dauernd jemand aus der Rolle fällt oder keine Einigung über eine Entscheidung zu erzielen ist. Zudem kamen heute noch mehr als in den letzten Tagen Kommentare über zu große Hitze - dabei haben wir erstmals eine Woche ohne Regen (!) - wie schön es wäre zu trampen usw. .
Nach einiger Zeit nahm ich die Gesprächsführung in die Hand, um endlich zu Entscheidungen zu kommen und dann einkaufen zu können. Daniel sagte dauernd, daß er bei Pizza Hut essen möchte und irgendwann reichte es mir und ich schnauzte ihn an, daß er lieber den Mund halten sollte, wenn er nichts zum Gespräch beizutragen hätte. Damit verletzte ich ihn, er fühlte sich ungerecht behandelt und verzog sich in eine Ecke. Um Druck auf ihn auszuüben teilte ich ihm mit, daß die Besprechung erst dann weiter gehe, wenn er wieder teilnehme und daß bis dahin alle auf ihn warten müßten.


100 km "Nichts"

       Entnervt ging ich in den Supermarkt, um meine Kopfschmerzen durch einen Kaffee zu behandeln. Dabei ging mir die Auseinandersetzung und die derzeitige Gruppensituation durch den Kopf und mir wurde klar, daß wir uns einiger Dinge wieder bewußter werden mußten. Auf dem Parkplatz war Daniel inzwischen zur Gruppe zurückgekehrt und als erstes entschuldigte ich mich bei ihm, denn gerade als ich ihn anschnauzte, war sein Spruch über Pizza Hut angebracht; aber dafür hatte ich kein Ohr gehabt.
       Anschließend teilte ich den Schülern mit, daß ich etwas Grundsätzliches zu sagen hätte, bevor der Einkaufsplan zu Ende besprochen würde: "Ich weiß nicht ob es Euch klar ist, aber ich finde, daß unsere Fahrt total geil läuft, auch wenn wir gerade unseren vielleicht größten Tiefpunkt haben und ich weiß jetzt schon, daß ich traurig sein werde, wenn die Fahrt in einem Monat zu Ende ist und daß ich Euch sehr vermissen werde, wenn Ihr allein nach Frankfurt zurückfliegt. (Pause) Ihr habt schon des öfteren von mir gehört, daß wir alle die Fahrt gestalten und wir haben uns vor der Reise überlegt, wieviel wir fahren wollen. Zur Zeit höre ich aber fast nur Klagen und daß Ihr trampen wollt. Es ist, als wenn Ihr erwartet, daß Ihr Euch gehen lassen könnt und ich die Fahrt alleine halte. Aber ich habe im Moment einfach nicht die Kraft dazu und wenn ihr wirklich trampen wollt, dann müssen wir uns darüber unterhalten und es vielleicht wirklich tun."
       Es war unglaublich, aber nach kurzer Überlegung sagten auf einmal alle, daß sie die gesamte Strecke fahren wollen! Es war, als wenn sie auf einmal wieder aus ihrer eher passiven, fremdbestimmten Schülerhaltung herausgekommen wären und sich bewußt wurden, daß sie nicht auf Druck von außen reagieren, sondern selbst entscheiden, ob sie die Durchquerung der Mojave Wüste per Fahrrad bewältigen wollten oder nicht. In solchen Momenten frage ich mich, warum es nicht gleich so geht und wieviel ich selbst dazu beitrage.


6. November, San Francisco, Kalifornien


am Pazifik angekommen

Wir haben unsere letzte Reisestation erreicht und es war ein denkwürdiger Tag. Trystan und ich begannen um 6 Uhr morgens unseren Vorsatz vom Abend in die Tat umzusetzen: "Heute werden wir sterben!" Selbst mit dem frühen Aufstehen schien es eine Tortur, die 170 km nach San Fran an einem Tag zu fahren, besonders, weil wir in den letzten sechs Tagen ja bereits 650 km hinter uns gebracht hatten.
       Das Mitgefühl der anderen war durchaus angebracht, obwohl auch sie eine schwierige Aufgabe vor sich hatten. Immerhin mußten sie die 170 km trampen und früh genug an der Waldorfschule ankommen, um noch unsere Unterkunft zu organisieren; alle drei Mädchen haben ihre Tage, Daniels Gepäckträger ist gebrochen und David hat eine schwere Erkältung. Die Wolken hatten sich weiter verdichtet und es war deutlich, daß unsere Wetterbeobachtungen korrekt waren, denn auch der Wind blies weiterhin von Südwest: Regen war zu erwarten und wir wollten deshalb nicht noch eine weitere Nacht zelten.
        Die ersten 15 km waren übel und erstaunlicherweise war ich wieder bereit für große Taten, nachdem wir uns den ersten Berg heraufgequält hatten. Wenig später fuhr dann hupend ein VW Bus mit Livia, Sarah, Cosima und Daniel an uns vorbei. In Santa Cruz gönnten wir uns ein herzhaftes, warmes Frühstück und als ich dann das Oberstufensekreteriat der Schule anrief, um unsere um einen Tag verfrühte Ankunft anzukündigen, da sprach der Anrufbeantworter, daß die Oberstufe die ganze Woche nicht da sei. Okay, wir waren also wieder mal dabei etwas Aufregung in eine Waldorfschule zu bringen. Ich hatte aber keinerlei Bedenken, daß die anderen die Lage nicht bewältigen könnten und onzentrierte mich völlig auf unsere Treterei.
       Bis Half Moon Bay, Kilometer 130, schnackelten wir nur so, die letzten 40 km nach San Francisco schienen wie eine Butterfahrt und uns war klar, daß wir heute doch nicht sterben würden. Auf einmal brach Trystans hintere Felge! Sie war nicht mehr zu reparieren und Trystan konnte es nicht fassen. Er wollte unbedingt die gesamte Strecke fahren. Als letzten Ausweg sah er den Kauf einer neuen Felge. Also machte ich mich auf die Suche nach einem Radladen und fand tatsächlich noch einen, so daß ich bei inzwischen strömendem Regen zu ihm zurückkehren konnte. Der Arme hatte sich eine Mülltüte als Regenschutz übergezogen und fror heftig.
       Kurz darauf endete der Radweg mitten in einem Wohngebiet am Meer und wir mußten einen langen, supersteilen Berg erklettern. Zu diesem Zeitpunkt fuhren wir nur noch auf ankommen und sahen uns als Charaktere in einem Abenteuerfilm. Die Frage war einfach, "was kommt als nächstes?" Erst kam dichter Nebel, dann wieder Regen und es wurde so kalt, daß wir eine weitere Essenspause im Warmen einlegen mußten. Endlich erreichten wir den Strand von San Francisco und Trystan steckte sich Blumen ins Haar.

Die Tramperei der anderen war so gut gelaufen, daß alle bis direkt vor die Tür gebracht worden waren. In der Schule wußte allerdings niemand Bescheid, da unser Kontaktlehrer ja nicht da war und außerdem niemandem etwas von unserer bevorstehenden Ankunft berichtet hatte. Die Schüler gingen daraufhin ungetrübt die verschiedenen Möglichkeiten für einen Übernachtungsplatz durch, während einige Leute in der Schule erstmal etwas verstört waren. Ich kann sie ja auch gut verstehen, denn normalerweise ist alles gut durchorganisiert und der Lehrer erscheint zuerst und bespricht alles notwendige, aber unsere Fahrt per Fahrrad läßt keine exakte Planung zu und außerdem finde ich es wunderbar, daß die Schüler mich nicht brauchen und die Dinge selbstbewußt selber klären. Es war nicht möglich in der Schule zu übernachten und schließlich erklärte sich eine Sekretärin bereit, daß wir in ihrem Minigarten für eine Nacht zelten könnten.


Sarah mit fliegendem Skateboard

16. Dezember, Offenbach, Deutschland

Vor zwei Tagen bin ich auch wieder in D angekommen und mehrere Schüler und Eltern haben mich am Flughafen abgeholt. Das Wiedersehen war herrlich und wir haben den ganzen Tag mit Fotos, Erinnerungen und dem Erzählen von Neuigkeiten verbracht. Schüler und Eltern sind sich einig, wie unglaublich reichhaltig und tief beeindruckend die Erfahrungen waren und für die Zukunft bleiben werden. Die Schüler berichteten weiterhin, wie sie jetzt von Fremden anders, respektvoller behandelt werden. Und Johnanna, die an der Frühlingsfahrt, wieder in die USA, teilnehmen wird, brachte ihre Beobachtungen bei der Rückkehr der "Gang" wohl am schönsten zum Ausdruck: "Die sind so schön geworden!"

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