Neue Wege der Waldorfpädagogik, Schule unterwegs

Info 3, Januar '99 Andreas Schier

Neue Wege der Waldorfpädagogik - Schule unterwegs


Hier kann nur mit, wer wirklich will - sonst ist es zu hart. Aber es geht um drei Monate geballte Lebensfreude. Solange nämlich ist der Waldorfpädagoge Andreas Schier mit Schülern per Rad unterwegs, um neue Wege in der Erziehung und im partnerschaftlichem Umgang mit Jugendlichen zu gehen.

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Im Frühjahr 97 habe ich - nach einer 9-monatigen Vorbereitungsphase - erstmals als Reiselehrer unterrichtet. Mit zwei Schülerinnen der elften Klasse öffentlicher Schulen in den USA war ich drei Monate lang in Europa unterwegs. Dabei kam es zu verschiedenen, schwerwiegenden Fehlern: Das Grundkonzept war schon ein Jahr vor meiner Mitwirkung entstanden und ich hatte nicht bemerkt, daß die Eltern dieses Konzept ausgearbeitet hatten, wobei die Schülerinnen Zustimmung ausdrückten, im Stillen aber eine ganz andere Fahrt planten. Die unterwegs schnell auftretende Diskrepanz zwischen Planung bzw. Erwartung und Realität brachte große Probleme.
       Ich hatte zudem zugestimmt und mich darüber gefreut, daß eine Schülerin in mehreren Fächern von mir unterrichtet und benotet werden durfte, solange ich während der Fahrt den Unterricht dokumentierte und mich so eng wie möglich an den Lehrplan hielt. Auf der Reise stellte sich dann heraus, daß diese Absprache viel zu sehr am Klassenzimmer orientiert war. Auf meinen Vorschlag hin wurde diese Reise nicht per Bahn, sondern mit dem Auto durchgeführt. Dies war zwar billiger und flexibler, aber gleichzeitig auch zu einfach und passiv für die Mädchen. Zu alle dem verstand eine Schülerin erst zu spät, daß sie ihre übliche Haltung gegenüber Lehrern nicht mit auf die Reise nehmen konnte.
        Der größte Erfolg der Reise bestand in einem großen Lerneffekt im Reisen. Obwohl die Schülerinnen noch nie zuvor ohne ihre Eltern gereist waren, konnten sie die Reise für weitere sechs Wochen allein fortsetzen, da sie einen hohen Grad von Selbständigkeit erreicht hatten.

Aufgrund dieser Erfahrungen habe ich für die daraufhin folgenden, dreimonatigen Radtouren durch die USA verschiedene grundsätzliche Änderungen des Konzeptes vorgenommen. Die Anzahl der Schüler (1) wurde auf sechs bis acht erhöht, das pädagogisch ungeeignete Auto durch das pädagogisch höchst geeignete Fahrrad ersetzt. Dadurch sind die Schüler durchgehend aktiv, selbständig und eigenverant-wortlich für ihre Ausrüstung. Anfangs verwalte ich das zur Verfügung stehende Geld, bis die Schüler damit umgehen können. Das Gesamtbudget muß knapp sein, damit Unannehmlichkeiten und Faulheit nicht durch erhöhte Ausgaben wett gemacht werden können.
       Der Schulstoff ist stark gekürzt, denn das Reisen, besonders mit dem Fahrrad, vermittelt sehr, sehr viel, aber »Stoff« paßt nur bedingt und in veränderter Form. So weise ich beispielsweise, obwohl ich Englischlehrer bin, nur gute Schüler und auch diese nur selten auf Fehler in der Grammatik hin. Die Überwindung der Hemmschwelle ist nämlich die größte Schwierigkeit beim Erlernen der Fremdsprache unterwegs. Für das Unterrichten amerikanischer Geschichte übernehme ich den Grundriß, während die Schüler fast alle dazugehörige Biographien wählen. Sie werden während des ersten Drittels der Fahrt vorgetragen.


Monument Valley, gesehen durch einen Fahrradrahmen

Für eine Schülerreise mit dem Fahrrad erscheinen mir mindestens drei Monate Zeit als optimal; bei mehr als drei Monaten wäre es sogar möglich, ein Projekt mit einzubauen. Drei Monate entsprechen einer Jahreszeit. In diesem Zeitraum können tiefgehende Erfahrungen gemacht werden. Ein so langer Zeitraum ist auch wichtig, um das Durchhaltevermögen entscheidend zu fördern. Und die bisherigen Erfahrungen haben gezeigt, daß das Nachholen des verpaßten Schulstoffs gut gelingt.
        Dabei sind die teilnehmenden Schüler keineswegs nur die »Klassenbesten«. Es ist deshalb auf den ersten Blick schwer verständlich, warum nach den äußerst erfolgreichen Fahrten - darin sind sich Schüler und Eltern einig - mit Schülern von zehn verschiedenen Waldorfschulen, die Kollegien nicht daran interessiert sind, daß solche Erfahrungen - zum Beispiel durch klassenübergreifende Diavorträge an den Schulen - bekannt und auch anderen Schülern ermöglicht werden. Neben der allgegenwärtigen Arbeitsfülle liegt der Grund dafür sicher in der Unsicherheiten darüber, was aus solchen Erfahrungen folgen kann und wie damit umgegangen werden soll. Löst sich möglicherweise die bisherige Form der Schule immer mehr auf?
        Ein Klassenkamerad eines Mitfahrenden hat beispielsweise nun einen Antrag gestellt, drei Monate an einem Sozialprojekt in San Francisco arbeiten zu dürfen. Die Lehrer reagierten etwas ratlos. Dabei ist aus der Wirtschaft allwöchentlich zu hören, daß Wissen als Bildungsziel nur ein Aspekt ist neben Flexibilität, selbständiger Persönlichkeit und Teamgeist. Wie lassen sich diese Fähigkeiten stärker fördern, obwohl der »Zwang« zum Abitur immer größer wird? Aber auch abgesehen von Wirtschaftserwartungen und -zwängen, brauchen wir nicht auch gesellschaftlich Alternativen?

Wie sieht eine Tour nun unterwegs konkret aus? Zu Beginn einer Fahrt übernehme ich fast alle Aufgaben, sei es die Budgetverwaltung, die Vorbereitung, Besprechung und Durchführung der Route, Einkäufe oder Organisation von Übernachtungen, und ich denke dabei sehr viel laut. Gleichzeitig werden Entscheidungen möglichst schnell von der ganzen Gruppe getroffen. Die Schüler lernen die Schwierigkeiten einer Konsensentscheidung kennen, wobei es situationsabhängig auch zu Mehrheits- bzw. Minderheitsbeschlüssen oder einer Entscheidung »von oben« kommen kann.
        Wichtige Voraussetzungen für die Selbständigkeit unterwegs sind ein sicheres und waches Fahrverhalten und das Lesen der Karte. Dabei kann ein unfreiwilliger Umweg sehr lehrreich sein. Anschließend beginnt die Aufteilung in kleine Gruppen für Tagesabschnitte, später ganze Tage; dann sind auch Einzelfahrten möglich. Letztendlich besteht meine Aufgabe darin »überflüssig« zu werden. Dies wird, wenn die Voraussetzungen stimmen, auch praktisch durchgeführt, indem die Gruppe beispielsweise ein paar Tage ohne mich weiterfährt.
        Zunächst mag sich das alles waghalsig anhören. Aber die Schüler sind zu diesem Zeitpunkt bereits gut gerüstet und sehr dankbar für das deutlich gezeigte Vertrauen. Die USA ist auch nicht, wie viele Amerikaner glauben, ein grundsätzlich gefährliches Land. Es kommt darauf an, wie man sich verhält und wo man wann ist.


gerade zurück in Deutschland

Fremden passiert selten etwas, und wenn, dann wurden in aller Regel grobe Fehler begangen. So aber wächst das Vertrauen in die Welt - und es ist kein blindes Vertrauen. Auf der letzten Reise haben wir 20mal (!) privat übernachtet - meist spontan eingeladen - zeltend im Garten, auf dem Fußboden und ein paarmal sogar im Bett schlafend. Die Gastfreundschaft ist eines der größten Geschenke, die wir während einer Fahrt erfahren dürfen. Unvergessen bleiben auch die vielen Nächte im Zelt - oder in warmen Nächten "draußen, sei es an der Pazifikküste, in den Weiten des Südwestens oder den Rocky Mountains.
        Mit 20 Mark pro Tag pro Person werden hauptsächlich unsere sehr hungrigen Mägen gefüllt, wobei wir in Naturparks auf Campingplätze gehen; teilweise mit Duschen. Aber auch Sportplätze von Schulen (während der Sommerferien) und Kirchen bieten hervorragende Übernachtungsmöglichkeiten.
       Bei der Routenvorbereitung lege ich inzwischen sehr großen Wert auf gleichmäßige Etappen von 90 bis 100 km . Dadurch ist das Radfahren wesentlich leichter - besonders auch für die Mädchen - und es ist kein Problem, im Bedarfsfall einzelne Schüler zum Austesten ihrer Grenzen bis zu 200 km am Tag fahren zu lassen. Jede Tour unterscheidet sich durch die Teilnehmer sehr von allen anderen Touren. Wir haben den Freiraum, auf individuelle Wünsche und Bedürfnisse einzugehen.(2)

Für alle Fahrten gleichermaßen gültig ist dagegen die Nicht-Benutzung von Telefon, E-mail und Fax zur Kontaktaufnahme nach Hause. Die Schüler erhalten dadurch die Möglichkeit, mehr Unabhängigkeit zu entwickeln. Die Eltern zeigen ihr Vertrauen und üben sich im »Loslassen«. Die Schüler können jederzeit Briefe und Karten schreiben, Eltern und Freunde erhalten "nur" drei Postadressen. Unterwegs feiern wir dann Feste, wenn es zum Verteilen und Lesen der Post kommt!

Solche Fahrten sind nicht billig, aber doch vergleichsweise preiswert; ich selbst verdiene dabei weniger als jeder Waldorflehrer. Die für 1999 geplanten Fahrten kosten pro Teilnehmer bis zu 4000 Mark, für die USA 5000 Mark. Dazu kommen noch Taschengeld und die Ausrüstung. Diese kann aber durch das Kaufen oder Leihen von Ehemaligen günstig sein. Während der letzten Fahrt haben wir 500 Dollar erspart und die Summe als Stipendium für die nächste Fahrt bestimmt!

Welche Fahrten sind für 1999 geplant? Es gibt für die sogenannten Frühlings- und Herbstfahrten jeweils zwei Möglichkeiten; letztendlich entscheiden die Schüler und Eltern, wohin es gehen soll.
        Im Frühling, etwa während April, Mai und Juni kann es in die USA gehen: diesmal an die Ostküste: von New Orleans über den »tiefen« Süden, die Appalachian Mountains, durch ehemalige Bürgerkriegsgebiete und Washington D. C. nach New York City.
        Zweites mögliches Ziel ist die Türkei: Land, Kultur und Religion von 2,3 Millionen in Deutschland lebenden Türken sind zu entdecken. Carsten, der an der letzten Fahrt teilgenommen hat, berichtet über seine Erfahrungen mit jungen Türken im Ruhrgebiet: Meist bekäme er zu hören, »was starrst du mich so an? willst du eins in die Fresse?« Wie wären wohl seine Erfahrungen, wenn er etwas türkisch könnte und von seiner Reise erzählen würde? Also, Mittelmeerküste, Südanatolien, Kapadokien, Schwarzmeerküste und zum Abschluß Istanbul.
        Im Herbst, etwa während August, September und Oktober ist Südwesteuropa vorgesehen. Die Thematik heißt »Ökumene«: Ein Besuch der Gemeinschaft in Taizé (evtl. im Rahmen einer von mir mitorganisierten Sternfahrt nach Taizé), das Zentralmassiv, Nachspüren der Katharer ( einer christlichen Gemeinschaft im Mittelalter) an der Nordostseite der Pyreneen, dann "El Camino Real" - der Jakobsweg (ein alter Pilgerweg) nach Santiago de Compostella im Nordwesten Spaniens, und eventuell zum Abschluß nach Lissabon.
        Alternativ dazu Osteuropa: Tschechien (Prag), Polen (Auschwitz), die Slowakei (Hohe Tatra), Ungarn (Budapest), Slowenien und Italien (Poebene). Es kann nur mit, wer wirklich will; sonst ist es zu hart. Aber es geht um drei Monate geballte Lebensfreude.

( 1) Der besseren Lesbarkeit wegen ist durchgehend die männliche Ein- und Mehrzahl verwendet, es sind aber immer auch die Schülerinnen gemeint.

2. Im Februarheft der Zeitschrift Erziehungskunst ist in einem tagebuchartigen Artikel eine Fahrt konkret dargestellt.


Einige Hintergründe - Lernen abseits vom Klassenzimmer

Während meines Studiums an der Mannheimer Hochschule und am Rudolf Steiner College in Kalifornien habe ich Waldorfpädagogik so verstanden, daß das Grundanliegen in der Förderung grundlegender Fähigkeiten und der individuellen Persönlichkeit liegt. Elementare Fähigkeiten wie Selbständigkeit, Unabhängigkeit und Verantwortungsbewußtsein (zwei Seiten einer Münze), Tatkraft, Durchhaltevermögen und Hoffnung (nur im Duett zum Ziel führend), Vertrauen in die Welt, Liebe zur Natur, kreativer Umgang mit den Mitmenschen, der Umwelt und sich selbst und das mit dem Unbekannten Leben-Lernen - nicht alles fest geplant und abgesichert wissen müssen: innere statt äußerer Sicherheit.

Meine Praktika innerhalb der Studienzeit habe ich fast ausschließlich in Internaten verbracht, da es mir von Anfang an darum ging, einen tieferen Kontakt zu den Schülern zu finden, wie er gerade außerhalb des Klassenzimmers möglich ist. Dabei habe ich innerhalb und außerhalb des Klassenzimmers beobachten können: besonders in der Oberstufe haben nicht wenige Schüler die Überzeugung gewonnen, daß das wirkliche Leben erst nach dem Unterricht beginnt. Diese Einstellung kenne ich aus meiner eigenen Schulzeit an einem öffentlichen Gymnasium sehr gut. Nach meiner heutigen Auffassung und Aufgabenstellung als Lehrer bedeutet Schule aber Leben und Lebensschule.

Wie sieht das heutige Leben aus? In vielen Bereichen scheint sich unsere Gesellschaft - in Deutschland wie in der gesamten Welt - in Sackgassen zu befinden. Am deutlichsten wird dies beim Umgang mit der Natur, aber auch in anderen Bereichen wie dem mitmenschlichen Umgang, dem Umgang mit Menschen anderer Länder oder der Versorgung der Grundbedürfnisse aller Menschen. Ich sehe die Möglichkeit einer »gesundenden« Zukunft nur dann, wenn neue, kreative Wege und Entwicklungen von den jungen Menschen kommen.

In Gesprächen mit Jugendlichen habe ich aber auch häufig gehört, daß sie keine Hoffnung haben, etwas zum Guten ändern zu können. Als Gründe wurden angeführt, »alles ist festgefahren und wird trotzdem als gut hingestellt« oder »der Einzelne fühlt sich hilflos und schwach und kann dem nur wenige, positive Erfahrungen gegenüberstellen.« Außerdem beklagen viele Jugendliche, daß sie nur auf Druck von außen tätig werden und große Schwierigkeiten haben, Ziele selbständig zu erreichen.


Andreas Schier (2. v. r.): "Schule unterwegs ist für mich eine sinnvolle Alternative zum Klassenzimmer"

Als langjähriger Rucksackreisender habe ich mich dann mit der sogenannten Erlebnispädagogik auseinandergesetzt, die meist dann eingesetzt wird, wenn Schüler durch andere Maßnahmen nicht mehr erreichbar sind. Solche verhaltensauffälligen Schüler - nach außen oder innen destruktiv, teils drogengefährdet - gehen dann auf einen Bauernhof, ein Segelschiff, in ein Krankenhaus in ärmste Gebieten oder absolvieren ein Überlebenstraining in der Natur.

Durch diese Erfahrungen, aber auch durch die Teilnahme an Klassenfahrten und eine Jahresarbeit über die Drogenproblematik an Waldorfschulen, stellte sich mir die Frage, warum solche anerkannten, pädagogischen Maßnahmen nur dann ergriffen werden, wenn größte Schwierigkeiten vorliegen? Warum können sie nicht einer größeren Zahl von »normalen« Schülern ebenso zugänglich gemacht werden?

Damit war meine Entscheidung, »Reiselehrer« zu werden, gefallen. Ich bin vor allem vor, aber auch während meines Studiums im Rahmen der Praktika, sehr viel gereist. Durch meine eigenen Erfahrungen war mir klar, daß die anfangs beschriebenen Fähigkeiten dadurch sehr gut gefördert werden können. Bei der »Schule unterwegs« ist jedem Schüler deutlich, daß die Schule eng mit dem Leben verbunden ist. Gerade in der heutigen Zeit ist es auch besonders wichtig, tiefes Verständnis für andere Kulturen und gute Kenntnisse in Fremdsprachen zu gewinnen.

Ein weiterer, entscheidender Faktor für die Tätigkeit als Reiselehrer ist die Möglichkeit, ein verändertes Schüler-Lehrer-Verhältnis zu erarbeiten. Auf Reisen muß ich als Lehrer Schüler viel seltener auf Probleme und Fehler aufmerksam machen, weil die Welt als Spiegel funktioniert und zu einer direkten Erfahrung führt; es ist im Gegenteil oft wichtig, dann nicht darauf hinzuweisen, »daß man es doch so vorausgesagt hat«. Gleichzeitig bin ich nur teilweise Lehrer, und teilweise auch Erziehungsberechtigter, Mitgestalter oder Freund. Die Wahrhaftigkeit ist noch viel wichtiger als ohnehin schon, da jeder durch das viele Zusammensein in verschiedensten Bereichen sowieso »durchschaut« wird.

Für die Fahrten ist es nicht nur wünschenswert, sondern aufgrund der großen Verantwortung unumgänglich, daß ein offenes und ehrliches Verhältnis erarbeitet wird. Eine Haltung wie »Hauptsache, ich werde nicht erwischt« (auf Klassenfahrten weitverbreitet) funktioniert hier nicht, obwohl natürlich kleinere Grenzüberschreitungen vorkommen und für das Jugendalter auch richtig und wichtig sind. Inzwischen geben die Schüler ein Ehrlichkeitsversprechen« ab; das ist nur freiwillig möglich. Sollten bestimmte Dinge vorkommen, wird mir davon bei der nächsten Gelegenheit berichtet; die Schüler nennen das »beichten«.

Durch das enge Miteinander-Leben ist es für mich auch möglich, in diesem Zeitraum intensiv auf jeden einzelnen Schüler einzugehen. Dabei kann und muß jeder Schüler unterschiedlich behandelt werden, um auf die einzelnen Bedürfnisse und die verschiedenen Persönlichkeiten voll einzugehen. Für die Schüler bedeutet eine solche Reise eine Erfahrung als Mitgestaltende, wie sie im Klassenzimmer nicht vermittelt werden kann. Die Arbeit - Radfahren, Reisetätigkeiten, Versorgung der Grundbedürfnisse und "Schulstoff" - wird vorher mit den Schülern abgesprochen, aber die tatsächliche Ausführung und das Integrieren der Freizeit - das »Ausatmen« - werden zunehmend in die Hände der Schüler gelegt. Dabei ist es sehr wichtig, daß die Schüler freie Initiativräume erfahren; frei, weil sie nicht gefüllt werden müssen.


"Feeling free" Basti in den Rocky Mountains

Als Lehrer bemühe ich mich, mir immer bewußter darüber zu werden, wie ich mit den Schülern umgehe. Wo versuche ich, Schüler durch Annehmlichkeiten zu bestechen, zu bestrafen oder unter Druck zu setzen? Es geht um die zuvor erwähnte, verbreitete Unfähigkeit, ohne Druck von außen nicht tätig werden zu können, oder positiv ausgedrückt um die Förderung von echtem Interesse und Integrität.
        Als Lehrer halte ich es für wichtig, auch meine eigene Verletzlichkeit zu zeigen. Es ist nicht nur viel leichter zu unterrichten, wenn kein Vollkommenheitsanspruch auf meiner Seite vorhanden ist. Eine tiefe, menschliche Weiterentwicklung ist überhaupt nur möglich, wenn Verletzlichkeit und Schwächen als Realitäten anerkannt und gezeigt werden können. Es geht dabei nicht um Manipulation, sondern um Verständnis.

Abschließend möchte ich noch darauf hinweisen, daß diese Möglichkeiten teilweise nur mit kleinen Gruppen bestehen. Eine Übertragung auf eine Klasse mit 3, 4 Lehrern führt zwar zum gleichen Lehrer-Schüler-Verhältnis - beispielsweise 1:8 - aber das Verhältnis Lehrer-Schüler ist zu distanziert.

 

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