"Schule unterwegs" geht trekken
Gesucht wird: Erlebnislust. Info3-Lesern bereits durch seine
Fahrradtouren bekannt, wird der Pädagoge Andi Schier im diesem
Jahr mit einer kleinen Gruppe Jugendlicher zu Fuß einen
Abschnitt des berühmten Appalachian Trail entlang der Ostküste
der USA bezwingen.
"Die Jugend von heute wandert nicht gern!" Diesen Ausspruch
habe ich nicht nur einmal gehört, während ich diese
Fernwanderung vorbereite, aber glauben kann ich es nicht. Die
Vorurteile über die Jugend haben noch kaum jemals eine realistische
Auskunft über ihr Objekt gegeben; schon zu Sokrates' Zeiten
galt die Jugend als faul und unhöflich. Sie war es damals
nicht, sie ist es heute nicht. Was stimmt, ist, dass Jugendliche
mit dem Wort "Wandern" etwas verbinden, zu dem sie weder
einen Bezug noch Lust haben. Aber was soll's: dann geht die Jugend
von heute eben "trekken"; das ist dasselbe, macht aber
riesigen Spaß. Ich dachte zwar bei diesem Begriff bislang
eher an ausgedehnte Expeditionen, musste mich aber von einer Vertreterin
der zeitgenössischen Jugend belehren lassen: "Andi,
nicht wandern, sondern 'trekken'!".
Gut: wir gehen also trekken.
Natürlich bereite ich nicht irgendeine Trekkingtour vor,
sondern eine ganz besondere: es geht auf den legendären Appalachian
Trail (AT) an der Ostküste der USA, der sich über fast
3.500 km von Georgia nach Maine zieht. Die USA bieten sich als
Ziel unserer Reise auch aus sprachdidaktischen Gründen an:
Welcher Schüler möchte heute nicht besser Englisch verstehen
und sprechen lernen und wo kann man die Hemmschwelle leichter
überwinden als in den USA?
Die Trekkingtour beginnt Mitte August 2003 und dauert die bewährten
3 Monate. Die eine oder der andere muss also maximal 3 Wochen
Schulferien "opfern"; der Rest der Tour findet während
der Schulzeit statt. Das soll auch so sein, denn "Schulzeit"
im besten Sinne sind ja auch die Unternehmungen der "Schule
unterwegs".
Was bedeutet "Schule unterwegs"?
Ich bin Waldorflehrer, genauer gesagt Fremdsprachenlehrer, wobei
mein Klassenzimmer von den Weiten des Horizonts begrenzt wird.
Hinter "Schule unterwegs" steht die Auffassung nicht
nur, aber auch der Waldorfpädagogik, dass neben der Stoffaneignung
und dem Erlangen von Abschlüssen vor allem die Entwicklung
der Persönlichkeit und allgemeiner, lebensrelevanter Fähigkeiten
sehr wichtig ist. Selbstständige Unabhängigkeit und
Verantwortungsbewusstsein sind wie zwei Seiten einer Münze.
Ähnlich bedingend verhalten sich Hoffnung und Durchhaltevermögen
zueinander, denn ohne Hoffnung setze ich mir keine Ziele und ohne
Durchhaltevermögen erreiche ich sie nicht.
Bei den berühmten sozialen Fähigkeiten geht es letztlich
auch um zweierlei: um Vertrauen in sich selbst und Vertrauen in
die Welt. Die Welt sind nicht nur die anderen Menschen, sondern
auch die Natur, denn ohne sie können wir nicht leben; für
die Betrachtung ist sie ein eigenes, faszinierendes Reich. Um
sie lieben zu lernen müssen wir eine innere Verbindung zu
ihr aufbauen und diese erlangt man durch Erlebnisse - das reine
Wissen um Umweltprobleme reicht nicht aus.
Zu guterletzt - heute aber immer wichtiger werdend - geht es um
die Fähigkeit, mit dem Unbekannten zu leben. Wie sagte John
Lennon: "Leben ist das, was passiert, während wir unser
Leben planen". Planung ist wichtig. Noch wichtiger aber ist
die innere Sicherheit im Umgang mit wechselnden Lebenssituationen.
Es ist schon auf den ersten Blick klar, dass sich diese Fähigkeiten
auf einer "pädagogischen Reise" sehr gut fördern
lassen. Dabei dient die Welt als Spiegel und die Schüler
sind gefordert, direkt und unmittelbar aus ihren Erlebnissen zu
lernen statt ihr Wissen aus dem Glauben an die Worte wechselnder
Erwachsener zu beziehen, wenn diese ihre aus eigenen Erfahrungen
erlangten Weisheiten weitergeben.
Dem widerspricht natürlich nicht, dass es gewisse Grundregeln
gibt, die einzuhalten sind. Diese haben sich bereits auf fünf
dreimonatigen Radtouren bewährt (bei Beginn der Trekkingtour
werden es sechs sein).
Über Erfolg oder Misserfolg einer Fahrt entscheidet nur eine
einzige Sache; das Gelingen hängt sozusagen an einem seidenen
Faden - und dieser heißt: Offenheit und Ehrlichkeit. Die
Bereitschaft und Fähigkeit dazu bilden die Grundvoraussetzung
zur Teilnahme. Wenn das innere Feuer für eine solche Fahrt
brennt, werden auf diesem Boden alle aufkommenden Ängste
und Zweifel im Vorfeld in die Schranken gewiesen und auch unterwegs
werden die selten auftretenden, aber möglichen Stimmungstalsohlen
erfahrungsgemäß erfolgreich durchschritten.
Das Leben lässt sich ja durchaus mit einer solchen Wanderung
oder Radtour vergleichen, aber glücklicherweise sind unterwegs
die langen Steigungen seltener: "Andi, wir haben ein Problem
und du musst uns helfen! Wir wollen noch nicht zurück!"
- das habe ich auf jeder Radtour gehört. Es liegt wohl an
dem Wunsch, einmal richtig raus zu kommen aus der alltäglichen
Selbstverständlichkeit, weit weg; mit vielen Tagen, die sich
langsam entfalten, überraschenden Begegnungen, den Freundschaften
in der Gruppe, dem Freiheitsgefühl und den tiefen Erfahrungen.
Weit weg sein bedeutet auch, dass es keinen Telefon-, Fax- oder
Emailkontakt ins Heimatland gibt. Die gute, alte "Schneckenpost"
gewinnt eine neue Bedeutung; und wenn einmal im Monat Post von
Familie und Freunden eintrifft, dann ist "Weihnachten".
Meist bekommt viel Post, wer auch viel schreibt, was in der Regel
für die Jungs ein Nachteil ist. Aber selbst für den
ungewöhnlichen Fall, dass jemand einmal gar keinen Brief
erhält, gibt es den nicht zu verachtenden Vorteil einer von
der Gruppenkasse bezahlten Leckerei; wenn alle zustimmen.
Viele Entscheidungen werden im Konsens getroffen, daneben gibt
es Mehrheits- und auch Minderheitsbeschlüsse - je nach Fragestellung
- und manchmal eine "Entscheidung von oben". Von oben
bedeutet in diesem Fall: von mir, denn schließlich bin ich
für die Fahrt verantwortlich und für die Dauer der Reise
der Erziehungsberechtigte (der einzige - auch wenn viele Eltern,
besonders Väter, am liebsten mitkommen würden).
Den Appalachian Trail kenne ich abschnittsweise, wenn auch nicht
zur Gänze. Lange Wandertouren sind mir jedoch vertraut; ich
habe unter anderem die 1.500 Kilometer von Le Puy in Frankreich
nach Santiago de Compostella in Spanien genossen oder auch eine
Wildniswanderung mit Jugendlichen in Schweden.
Über den AT gibt es viele gute Wegbeschreibungen und Bücher,
die wichtigsten natürlich nur auf Englisch, so dass wir unterwegs
die gesamte Routenvorbereitung in der Landessprache durchführen
werden.
"Reisefieber"
Der erste Kontakt besteht gewöhnlich aus einem Telefongespräch
oder ein paar Emails. Bei anhaltendem Interesse komme ich zu Besuch
zur genaueren Erklärung und zum Kennenlernen. Dabei steht
Vertrauen finden ganz oben auf der Liste. Schließlich geht
ein Beurlaubungsantrag an die Schule. An Waldorfschulen entscheidet
darüber das Oberstufenkollegium, an öffentlichen Schulen
der Rektor.
Rechtzeitig vor Fahrtbeginn findet dann das Kennenlern- und Vorbereitungswochenende
statt; anschließend stehen Ausrüstungszusammenstellung,
etwas Training und Verabschiedung auf dem Programm. Die letzte
Nacht vor dem Abflug verbringen einige oder schon alle auf dem
Flughafen, damit keiner mitten in der Nacht aufstehen und sich
schlaftrunken verabschieden muss. Schon da wird es natürlich
ganz spannend; die Freude kommt oft noch gar nicht richtig durch,
da Aufgeregtheit und Ungewissheit in den Vordergrund drängen;
aber das gehört dazu: Reisefieber.
Wir fliegen nach Boston, verbringen evtl. ein paar Tage in privater
Unterkunft und fahren anschließend mit dem Bus nach Hannover
in New Hampshire. Das Unistädtchen ist sehr bekannt als wander-,
sorry, "trekking"freundlich und bietet sich für
den Einstieg in die südliche Richtung an, da die berühmt-berüchtigten
und anstregenden White Mountains im Norden liegen. Anfangs übernehme
ich natürlich Routenplanung und Budgetführung, aber
sehr bald werde ich abgelöst und die Aufgaben, wie auch das
Einkaufen und Kochen, gehen reihum. Natürlich haben wir nicht
viel Geld zur Verfügung, aber wir wollen ja auch keine Pauschalreise
mit Hotel und Restaurant. Das Essen muss meist für ein paar
oder mehrere Tage im voraus gekauft (und getragen) werden. Dadurch
werden die "Zero Days", Tage ohne Kilometer, in den
Städtchen um so reizvoller.
Begegnungen mit anderen Wanderern wird es zur Genüge geben.
Von Süden her kommen die "Northbounders" bzw. "Nobos",
die teils schon seit 4, 5 Monaten unterwegs sind. Aber es gibt
neben uns auch andere "Sobos" - also nach Süden
Ziehende -, mit denen wir vielleicht für ein paar Tage gemeinsam
wandern und die wir dann möglicherweise später überraschend
wiedertreffen. Die Gemeinschaft der AT-Familie ist ebenfalls legendär
und ein Grund, warum dieser Fernwanderweg seine Attraktivität
nicht verliert. Gleichzeitig bleibt er eine Herausforderung und
ist deshalb dem Massentourismus nicht zugänglich.
Die Gastfreundschaft und Neugier der Amerikaner lässt sich
weder vom 11. September noch von George Bush erschüttern
und eine Gruppe von Oberstufenschülern aus Deutschland stellt
gewöhnlich schon auf dem Fahrrad eine kleine Sensation dar.
Ehemalige Fernwanderer bieten oft die besten Herbergen an, denn
sie wissen genau, wonach Körper und Seele lechzen - und wie
schmal das Portemonnaie auf einer langen Tour wird. Außerdem
gibt es noch die "Trail Angels", wiederum oft ehemalige
Fernwanderer (Thruhiker), die hier und da am Wegesrand warten
und kalte Getränke und Leckereien verteilen oder Wanderer
die mühseligen Extrakilometer in einen naheliegenden Ort
fahren.
Übernachten werden wir in unseren Zelten, in Schutzhütten,
die teils nach einer Seite offen sind, teils sogar Betten haben
- und natürlich auch mal im Garten oder Wohnzimmer eines
freundlichen, zum jetzigen Zeitpunkt noch unbekannten Gastgebers.
Der AT wird von Menschen aller Altersklassen bewandert. In Extremfällen
ist das Alter einstellig oder aber zweistellig mit einer 7 vorne;
natürlich spreche ich hier von Thruhikern. Erstaunlicherweise
(?) zieht es aber auch viele 19 bis 25-Jährige auf diese
Ultramarathonwanderung. Ich genieße die Vielfalt der Generationen,
schließlich bin ich bei Beginn der Tour schier unglaubliche
38 Jahre alt; aber für Schüler sind viele junge Leute
bestimmt eine Freude.
Der Trail führt von New Hampshire durch die Neuenglandstaaten
Vermont, Massachusetts und Connecticut nach New York. New York
City ist an einer Stelle nur noch eine Busstunde entfernt - und
wenn wir wollen, können wir dort einen richtigen Kulturschock
erleben. Weiter geht es dann durch New Jersey, Pennsylvania und
Maryland nach West Virginia. In Harpers Ferry ist der Hauptsitz
der "Appalachian Trail Conference" und dort werden wir
unsere Trekkingtour beenden. Gut 1.200 Fußkilometer liegen
dann hinter uns - das ist vergleichbar mit einer 5.000 km langen
Radtour - und zum Abschluss fahren wir mit dem Bus nach Washington
D. C., wo wir uns "akklimatisieren", bevor wir wieder
nach Deutschland fliegen, wo wir heißhungrig über das
leckere Brot herfallen werden - zumindest, falls wir uns auf der
Tour nicht unser eigenes Brot am Lagerfeuer gebacken haben.
Trotz erhöhter Flugpreise zur Hauptsaison wird das Trekken
nicht teurer als die Frühlingsradtour: also 2.750,- bis 3.500,-
Euro nach Selbsteinschätzung pro Person. Dazu kommt die Ausrüstung
(die gar nicht so aufwändig sein muss, wie das Vorbereitungswochenende
zeigen wird) und 200,- bis 250,- Dollar Taschengeld. Die Teilnehmeranzahl
ist, wie bei der Radtour, auf 5 bis 7 SchülerInnen begrenzt.
Der Appalachian Trail wartet auf uns! Bisweilen mit Mücken,
Hitze, Regen, Kälte. Aber auch mit Sonnenschein und Gelächter.
Mit neuen Freunden und Erfahrungen, Seen zum Schwimmen, Bächen
zum Trinken, Wind zum Kühlen, Lagerfeuer zum Wärmen,
mit wieder-staunen-können und schätzenlernen (auch eine
Dusche), mit Ruhe und Schönheit der Natur und dem wohligen
Gefühl, jeden Abend - egal ob Wander- oder Ruhetag -, die
Nachtruhe verdient zu haben; in drei Monaten, in denen man unglaublich
viel lernt und eine ebenso unglaublich schöne Zeit verbringt.
P. S. Wer jetzt immer noch nicht wandern möchte, der findet
vielleicht noch einen Platz bei der Radtour; Mitte April geht
es los. Wir fliegen in die Glitzerstadt Las Vegas. Anschließend
wartet der Südwesten der USA mit seinen unvergleichlichen
Naturschönheiten auf uns: Zion und Grand Canyon National
Park. Im Reservat der Navajo-Indianer besuchen wir die Oberstufe
einer öffentlichen Schule, im Bundesstaat New Mexico den
Naturschriftsteller Stephen Bodio und seinen Jagdfalken. Interessante
Städte wie Santa Fe liegen auf unserer Route, bald geprägt
von der unendlichen Weite des Mittleren Westens. Der vorherschende
Westwind treibt uns ins sommerliche Chicago, den Endpunkt unserer
Reise.
1 In "Info3", Januar 1999 lässt sich ein ausführlicher
Hintergrundbericht nachlesen.
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