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3, Mai 2000
Dirt Time - Wildnistraining in den USA
Schon lange faszinierte den Reisepädagogen Andi Schier
die Lebensphilosophie des amerikanischen Survival-Lehrers Tom
Brown. Jetzt wollte er es wissen: ein Bericht über eine lebensverändernde
Woche.
Camp Lindblad, Kalifornien, USA, 5. März, Sonntagabend »Es
tut mir leid, dass dieser Kurs so groß ist. Wir haben 153
Teilnehmer, 45 Helfer und sechs Kursleiter. Die Nachfrage ist
so groß, dass sich zwei- bis dreijährige Wartezeiten
ergeben würden, wenn ich die Kurse, wie bis vor einigen Jahren,
auf 50 Teilnehmer begrenzen würde. Einige von Euch werden
Bedenken haben, dass sie nun nicht genug lernen werden. Also mache
ich ein Angebot: Wer am Dienstagabend dieser Meinung ist, der
bekommt seine volle Kursgebühr erstattet und kann gehen.«
Immerhin geht es hier
um 700 Dollar (1.400 Mark) für sechs Tage - die Hälfte
davon kassiert die Versicherung. Zwei Tage später, am Dienstagabend,
denkt niemand daran, sein Geld zurückzuverlangen. Was für
ein Kurs ist das und wer hat dieses Angebot in seinem Eröffnungsvortrag
gemacht?
Es ist ein Amerikaner weißer Hautfarbe, geboren 1950. Sein
Name ist Tom Brown. Im Alter von sieben Jahren suchte er gerade
nach Steinfossilien in einem ausgetrockneten Flussbett, als er
seinen zukünftigen Lehrer, Stalking Wolf, traf. Zu diesem
Zeitpunkt war Stalking Wolf, ein Indianer vom Stamm der südlichen
Lippanappachen, 83 Jahre alt. Als er aufwuchs, lebten seine Leute
versteckt in den Bergen südlich der amerikanischen Grenze,
ständig bereit zur Flucht. Die kleine Gruppe bewahrte ihre
ursprüngliche Lebensart und benutze nichts, was von Weißen
kam.
Im Alter von 12 Jahren
erhielt Stalking Wolf - Pirschender Wolf - seinen Namen, als Stammesälteste
beobachteten, wie er sich an einen Wolf heranpirschte, diesen
berührte und sich zurückzog, ohne dass der Wolf etwas
bemerkte. Er befand sich in seiner fünfjährigen Ausbildung
zum Kundschafter. Daraufhin unterzog er sich einer ebenso langen
Ausbildung zum Heiler. Es folgten, wie es ihm eine Vision angekündigt
hatte, 60 Jahre des Wandern; von Küste zu Küste, von
Alaska bis Patagonien. Sein Auftrag bestand darin, verschiedene
Philosophien zu erforschen, deren Konzept und Spiritualität
bis auf den Kern zu vereinfachen und in der Natur zu prüfen.
Der Fährtensucher
Stalking Wolf unterrichtete Tom Brown bis zu seinem 18. Lebensjahr.
Wie jeder andere ging auch Tom zur Schule, aber die Zeit vor und
nach der Schule verbrachte er unweigerlich in der Natur. Anschließend
kehrte Stalking Wolf zu seinem Stamm zurück und beschritt
seinen letzten Weg, während Tom weitere zehn Jahre lang die
Natur erkundete und an seinen Fähigkeiten arbeitete. Unter
anderem verbrachte er, anfangs nur mit Shorts bekleidet und einem
Messer bewaffnet, ein Jahr in der Pine
"Es geht darum, Schleier zu lüften" - Tom Brown
erklärt das Spurenlesen
Barren Wildnis. Ein Artikel über dieses Jahr erschien in
Reader's Digest; die Reaktion war unglaublich. Es folgte sein
erstes Buch - "Der Fährtensucher (The Tracker)"
- und er gründete im Alter von 28 Jahren die Tracker-Schule.
Mit dieser Schule verbindet ihn eine Hassliebe: Sein Traum ist
es, sich mit seiner Familie in die kanadischen Rockies zurückzuziehen
und dort mit der Natur zu leben. Seine Schule erlaubt ihm seinen
Traum nicht. Aber seine Schule erlaubt ihm, seine Vision zu leben;
seiner Vision nicht zu folgen würde für ihn bedeuten,
lebendig tot zu sein.
Tom Brown ist besessen; das sagt er - starke amerikanischen Ausdrücke
benutzend - selbst. Sein Lieblingsbuch stammt von Charles Little,
es heißt "The dying of the trees" (Das Sterben
der Bäume). Er empfiehlt jedem, es zu lesen, zu weinen und
das Buch an einen Freund weiterzureichen. Seine Vision: unterrichten,
um der Erde zu helfen.
Stalking Wolf hat ihn
nach Coyotenart unterrichtet. Beispielsweise fragte er Stalking
Wolf einmal - wie er in seinem ersten Buch beschreibt - woher
er, ohne es zu sehen, wusste, dass eine Eule im Baum saß.
Stalking Wolfs Antwort war: »Geh und frag die Mäuse«.
Es dauerte Wochen, bis Tom die Mäuse so weit befragt - beobachtet
- hatte, dass Stalking Wolf mit dem direkten Unterricht fortfuhr.
Wir hatten nur eine
Woche Zeit. Kevin, Direktor der Schule, »der Mann mit den
kalten Händen« und ein ausgezeichneter Lehrer, gab
uns folgendes Bild: »Man könnte sagen, Tom schmeißt
Euch in einen Abgrund und wirft das notwendige Wissen hinterher.«
Trotzdem - oder deswegen? - habe ich alles erhalten, was ich erhofft
habe. Und mehr.
Geschichtenerzähler
Zurück zum Dienstagabend. Das Thema ist »Hirngerbung«.
Ruth-Anne beginnt mit einer Geschichte - wie es dazu kam, dass
sie zum ersten Mal ein Reh gehäutet und das Fell gegerbt
hat. Alle Kursleiter sind exzellente Geschichtenerzähler.
Sie berichten anschaulich, setzen Pausen zur Steigerung der Spannung,
lösen sie durch humoristische Einlagen und wählen die
Geschichten so geschickt, dass bei der Einführung in ein
neues Thema Vorbehalte abgebaut werden und das Lernen beginnt.
Ruth-Anne ist in diesem
Fall die Heldin der Geschichte, aber wie so oft geht es um den
Weg, um die vielen Schwierigkeiten, um Ausdauer, Kreativität
und darum, den ersten Schritt zu tun. Die Geschichte geht zu Ende,
das selbst geschneiderte Lederkleid von Ruth-Anne erscheint in
einem neuen Licht und Tom McEnroy kommt herein. Er bringt einen
Waschbären mit, regennaß, tot, vor zwei Tagen von einem
Auto überfahren. Tom illustriert zwei verschiedene Techniken
des Häutens.
Es geht also um Überlebens- bzw. Wildnistraining. Dies ist
der Grundkurs, wir schlafen in unseren Zelten und spielen fast
keine Rolle bei der Zubereitung des Essen. Indianischer Philosophie
entsprechend handelt es sich um Überlebenstraining im Einklang
mit der Natur, bei Fortgeschrittenen so weit, dass der Natur dabei
geholfen wird. Die Zeit ist knapp und in dieser Woche geht es
nicht nur darum, Feuer ohne Streichhölzer zu machen. Die
große Zeit des Übens - »dirt time« - beginnt
nach dem Kurs. Ein Einführungskurs besteht zu 70 Prozent
aus Vorträgen und Demonstrationen. Wir hatten die ersten
vier Tage reichlich Regen und einmal sogar Hagel, also waren wir
nicht viel draußen. Für 200 Menschen stand ein Kamin
zur Verfügung, um Sachen zu trocknen. Außerdem gab
es ja Pausen.
Einige Minuten zwischen den verschiedenen Vorträgen - zwei
Toiletten im Gebäude, andere auf dem Gelände verteilt
- und eine Stunde Mittag sowie anderthalb Abendessen. Pausen waren
wertvolle Übungszeiten, schließlich konnte man hier
erste Erfahrungen sammeln und Fragen stellen. Grundsätzlich
- auch bei Vorträgen - waren alle Fragen erlaubt, so lange
sie zeigten, dass der Fragende vorher gedacht hatte. Wer sich
gerne reden hört oder zeigen wollte, wie viel er verstanden
hat, brauchte den Mund gar nicht erst aufzumachen.
Die Kursteilnehmer -
etwas mehr Männer als Frauen - waren mindestens 18 Jahre
alt, der Älteste etwa 70. Ich habe die verschiedensten Berufe
angetroffen - typisch amerikanisch. Ein Mittvierziger, der Sägespäne
zusammenfegt und Mülleimer leert, eine Studentin - ehemalige
Waldorfschülerin, eine Künstlerin aus Los Angeles, einen
rastlosen Schriftsteller technischer Literatur, ein Mitglied einer
(Musik-)Band. Neben den Amerikanern gab es auch einen in Kanada
lebenden Holländer, einen Restaurantbesitzer aus London und
einen ehemaligen Fahrradkurier aus der Schweiz. Viele hatten gemeinsam,
dass sie offenbar das schwarze Schaf der Familie sind. Und alle
hatten gemeinsam, dass sie der Natur anders begegnen (wollen),
nicht nur äußerlich.
Magische Momente
Es gab magische Momente. Feuer machen - mit Bogen, Spindel, Spindelhalter,
Feuerbrett und Zunder - am Anfang Jute. Es geht nicht ohne Respekt
und eine gute Technik. Als es mir letzten Sommer zum ersten Mal
gelang, hatte ich diesen unglaublichen Moment voll Freude und
Ergriffenheit. Deshalb kann ich erahnen, wie es meiner Sitznachbarin
Liz erging. »Glückliche« wie ich hatten am Montagnachmittag
das erste Feuer entzündet. Im Laufe der Tage wendeten wir
uns einer anderen Technik oder einem anderen Übungsbereich
zu - meiner wurde: wie entspanne ich mich am besten in der Pause,
damit ich mich hier nicht total überladen fühle. Liz
konnte das nicht. Sie hatte es noch nicht geschafft ein Feuer
zu entzünden. Also nutzte sie ihre Pausen. Am 5. Tag gelang
es schließlich - und sie hat geweint.
Magische Momente des Feuermachens - Bogentechnik
Die Menge der Informationen war unglaublich. Kassettenrecorder
waren bereits im voraus empfohlen worden und jeder fünfte
brachte einen mit. Fotoapparate waren noch mehr verbreitet und
Tafelbilder konnten jederzeit auf Film gebannt werden. Erstaunlicherweise
habe ich neben diesen beiden Medien auch ungewöhnlich gut
mit Notizen gearbeitet: drei verschiedene Arten des Feuer machen;
Herstellung von Schnur; Pflanzenkunde; Wasser; Laubhütte
und geräumige Unterkünfte; Steinbearbeitung; vier Fallen;
eine Waffe; sechs Arten des Pirschen; Kleidung und Tarnung; Hirngerbung;
Tierkunde; Nahrungszubereitung und -konservierung; Lernen; Wahrnehmung.
Spurenlesen
Fährtensuchen und Spurenlesen erhalten besondere Aufmerksamkeit.
Es geht nicht einfach darum, eine Fährte zu finden und zu
verfolgen. Es stellen sich auch viele Fragen: welche Gattung,
männlich oder weiblich, wie groß, wie schnell, von
wo kommend, wohin unterwegs, wohin schauend, was fühlend?
Dazu kommen Spuren, die nicht von Pfotenabdrücken stammen,
Landschaftskunde, um Spuren und Fährten gezielt zu entdecken.
Es geht darum Türen
zu öffnen, Schleier zu lüften, Mauern aus dem Weg zu
räumen. Und letztendlich um die Verbindung des Physischen
mit dem Spirituellen. Beide sind Geschenke des Schöpfers
und können nicht allein bestehen. Und wer eines zugunsten
des anderen vernachlässigt, der würdigt die Geschenke
nicht.
Der Gundkurs ist die Basis zu 32 anderen Kursen, die angeboten
werden. Sogenannte Spezialkurse, die alle zwei bis drei Jahre
angeboten werden, aber nur den Grundkurs als Voraussetzung haben.
Kursinhalt sind Dinge wie indianisches Handwerk während der
Winterzeit oder der Weg des Coyoten - als Unterrichtsmethode.
Einen anderen Weg bieten
die sechs aufeinander aufbauenden Philosophiekurse. Spiritualität
steht im Vordergrund und, Stalking Wolfs Lebenssuche entsprechend,
beispielsweise dynamische Meditation; d. h., dass Tätigkeit
und Meditation einander nicht aufheben, sondern verstärken.
Die Scout bzw. Kundschafterkurse
sind besonders beliebt. Unterkunft und Essen sind aufs Einfachste
reduziert, es gilt, gemeinsame Missionen duchzuführen, trotz
fortgeschrittener Einzelgänger, die alle anderen ärgern;
auf Schlaf scheint in diesen Kursen weitgehend verzichtet zu werden.
Attraktiv für Häuslebauer: Laubhütten sind Low-Budget-Projekte
Das Überlebenstraining wird fortgeführt und gipfelt
in einem 28-tägigen Kurs, zu dem man nur eingeladen werden
kann und der nichts kostet. Vier Wochen umsonst in der Wildnis
Montanas; allerdings im tiefsten Winter bei 25 Grad minus. Mitbringen
darf man Turnschuhe, Jeans, T- und Sweatshirt - sonst nichts,
noch nicht einmal Messer oder Gürtel. Nach vier Tagen werden
alle mitgebrachten Kleidungsstücke eingesammelt. Dieser Kurs
hat seit 5 Jahren nicht mehr stattgefunden, da es an qualifizierten
Teilnehmern mangelt.
Lebensverändernde Wirkung
Was trieb mich hier hin und warum schreibe ich diesen Artikel?
Es gibt zwei Gründe: Tom
Brown hat 16 Bücher geschrieben, 13 davon habe ich gelesen.
Unglaublich inspirierend und fachkundig. Ich wollte herausfinden,
was er tatsächlich zu bieten hat. Als Vorbereitung habe ich
meine Erwartungen gedämpft. Ich wurde nicht enttäuscht,
sondern überrascht. Auf den Punkt gebracht: Wenn die Teilnahme
an diesem Kurs nicht bedeutet, dass es die Woche war, die mein
Leben wie keine andere verändert hat und verändert,
dann würde ich es zutiefst bedauern und trauern - um mich
selbst und um die vertane Möglichkeit, der Natur näher
zu kommen, von ihr zu lernen und letztendlich auch ihr zu helfen.
Wer meinen letzten Artikel gelesen hat, der glaubt wahrscheinlich,
dass ich noch immer auf einem Segelschiff bin Ich musste aber
erkennen, dass ich mit dem Kapitän keinen Weg fand, mein
Konzept so umzusetzen, wie es mir verantwortlich schien. Deshalb
habe ich das Schiff unter sehr unerfreulichen Umständen vorzeitig
verlassen.
Vor vier Jahren, gegen Ende meines Studiums zum Waldorflehrer,
hätte ich am liebsten sofort Überlebenstraining unterrichtet.
Damals hatte ich gerade das erste Buch von Tom Brown gelesen.
Aber ich hatte keine Fähigkeiten und Erfahrungen. Jetzt ist
es anders. Ich habe weiterhin wenig Fähigkeiten und Erfahrungen
in diesem Bereich. Aber ich habe einen Weg erfahren und diesen
kann ich mit meiner Tätigkeit als Reiselehrer, der mit Oberstufenschülern
dreimonatige Radtouren in den USA unternimmt, verbinden. Das ist
der zweite Grund für diesen Artikel.
Anfang August geht
es los. Es gibt noch freie Plätze, die Schülerzahl ist
auf sieben begrenzt. Wir beginnen im Norden der Rocky Mountains
- in Idaho oder Montana - und folgen ihnen in südlicher Richtung
bis Arizona oder New Mexico. Die übliche Distanz von 4.500
bis 5.000 km wird verkürzt, damit wir mehr Zeit in der Natur
haben. Wahrscheinlich machen wir am Pfingstwochenende einen Basiskurs
im Wildnistraining mit Gero
Wever - Gero hat viele Kurse bei Tom Brown gemacht und betreibt
eine Natur- und Wildnisschule in Werther (bei Bielefeld).
Der Hinflug fällt in die Hochsaison - danach richtet sich
der Flugpreis - und der Dollarkurs ist deutlich gestiegen. Deshalb
kostet die Teilnahme zwischen 5.500 und 6.500 Mark, nach Selbsteinschätzung.
Fahrrad, Ausrüstung und Taschengeld stellt wie gewohnt jeder
selbst. Die Natur wartet auf uns. Wir brauchen nur noch zu kommen.
Und dann heißt es: »Time for play and dirt time«!
Andi Schier - Schule unterwegs
Am Sportplatz 16
33758 Stukenbrock
Email: andi@schuleunterwegs.de
Tel. 040-61 51 39
The Tracker School
PO Box 173
Asbury, NJ, 08802 USA
www.trackerschool.com
Gero Wever
Schlosstr. 8
33824 Werther
Tel. 05203-88 46 87
www.natur-wildnisschule.de
Email wildgewe@hotmail.com
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