Drei Monate Amerika - aus Sicht einer Mutter und Waldorflehrerin
Daniel war damals in der 10. Klasse, als ich den Artikel von Andi Schier über seine Fahrradtouren durch Amerika las. Es hörte sich spannend und sehr lebendig an. "Lies das mal, Daniel. Das klingt echt interessant!" Nicht wirklich ahnend, was das auslösen sollte.
Daniel, der normalerweise so wenig wie möglich liest, verschlang die Seiten regelrecht und es war ihm sofort klar: Das will ich machen!
Schule war ihm zu diesem Zeitpunkt mehr als überdrüssig. Vertane Zeit, zum Lernen keine Lust......
Nach ein paar ersten familieninternen Gesprächen versuchten wir uns klarer darüber zu werden, was das heißen würde. Daraus folgte: Kontaktaufnahme mit Andi, Kontaktaufnahme mit der Schule (was sagen die Kollegen dazu?).
Für Daniel kam die Zeit des Geldsparens, sehr eigenständig stellte er seine Ausrüstung zusammen. Das Kollegium hatte sein Ja-Wort gegeben, obwohl die Fahrt am Beginn der 12. Klasse sein würde. ( in den meisten Schulen sind Lehrer und Schüler der Meinung, dass man sich nun sehr konzentriert auf die bevorstehenden Prüfungen vorbereiten muss).
Alles schien gut zu laufen. Aber für Daniel gab es ein Unsicherheitsmoment: Soll ich das wirklich wagen? Er wusste nicht so genau, was da auf ihn zukam. Drei Monate sind eine lange Zeit. Zudem hatte er zu diesem Zeitpunkt eine Freundin, die von dieser Fahrt alles andere als begeistert war..............
Mir wurde es auch manchmal etwas mulmig: drei Monate sind eine lange Zeit. So selten sollte es nur die Möglichkeit geben zu schreiben: drei Mal! Ob Daniel wohl mal schreibt in dieser Zeit? Doch bestimmt! Aber ich werde ihn auf jeden Fall vermissen.
Die Fahrt rückte näher und das mulmige Gefühl wurde nicht grade weniger. In bezug auf seine schulische Situation war zunehmend "landunter". Hausaufgaben war nur ein Randthema, der Schulfrust machte sich zunehmend breit. Daniel hatte sich für die " Realschullaufbahn" entschieden. Mein Eindruck von der angespannten Schulsituation war: wenn er zurückkommt geht es entweder wieder besser oder erbricht die Schule ganz ab. Alles schien möglich.
Dann fuhr er weg.
Daniel schrieb ab und zu. Es ging ihm blendend. Er konnte Fahrradfahren, viel erleben. Aus seinen größtenteils selbstgebastelten Karten war zu entnehmen, dass er glücklich war. Manchmal hatte ich Angst um ihn und sprach dann mit seinem Zwillingsbruder darüber. Der versicherte mir: es geht ihm gut. Das beruhigte mich und stellte sich im Nachhinein als richtig heraus.
Dann kam Daniel zurück. Strahlend, mit neuer Frisur, glücklich und selbstbewußter. Seine 12.Klass-Arbeit schrieb er über seine Tour und hielt vor Schülern einen Bericht über seine Erlebnisse. Seine Quintessenz für die damalige Situation war: Ich habe bemerkt, dass ich nirgends so viel lernen kann wie hier und jetzt in unserer Schule und ich habe beschlossen, dass ich das Abitur machen möchte.
Das waren ganz neue Töne. Die Kollegen etwas skeptisch, aber offen. Daniel meinte das wirklich ernst: als Bester in der Gruppe machte er seine Realschulprüfung. Dann wiederholte er das 12. Schuljahr in der Abiturklasse und machte mit etwas nachlassender Motivation, aber nicht allzu schlecht, sein Abitur.
Für seine persönliche Entwicklung war diese Fahrt ein echter Meilenstein. Es war ein erstes Stück seines "outdoor-Leben". Was nach und nach immer mehr Bedeutung für ihn gewinnt, sowohl im Hobby- Bereich als auch für seine berufliche Zukunft. Klar ist gerade in dieser Zeit geworden: er geht seinen Weg, er lernte seine Stärken und Schwächen besser kennen und gut damit umzugehen, er entwickelte Mut und Vertrauen das die Dinge ihren richtigen Weg gehen und vor allem lernte er schon gut , welchen Beitrag er dazu leisten muss, damit etwas vorangeht.
Daneben entwickelten sich eine Reihe von Freundschaften, die er bis heute pflegt. Aus einer dieser Freundschaften - sein Zeltpartner auf der Tour - entwickelte sich noch viel weitergehendes: Carsten blieb in Familienkontakt. Immer mal wieder telefonierten sie miteinander, gemeinsame Unternehmungen wurden gemacht und so blieb dieser Kontakt nicht nur auf Daniel beschränkt. Carsten telefonierte auch mit mir manchmal eine halbe Stunde lang, kam zu Besuch.
Svenja, Daniels kleine Schwester wuchs heran, es entstand ein freundschaftliches Band zwischen ihr und Carstens kleiner Schwester Julia. Beide heute 17 Jahre alt. Sie schrieben sich öfter, lernten sich bei gegenseitigen Besuchen besser kennen und beschlossen gemeinsam auch mit Andi auf große Tour zu gehen.
Bei Svenja machte sich auch der Schulfrust breit, wenn auch nicht in dem Maße wie bei Daniel, aber es wurde immer deutlicher: sie wollte ihrem Alltag entfliehen, suchte eine andere Orientierung für sich und wollte aus dem Schatten der großen Brüder heraustreten. Sie wollte sich und allen Anderen beweisen, dass sie auch etwas kann. Vor allem etwas, was ihr niemand wirklich zutraut. So wurde der Wunsch zu einem Bedürfnis, zu einer Sehnsucht.
Als wir zum erstenmal mit Andi darüber sprachen war er vermutlich etwas überrascht, aber Svenja war zu diesem Zeitpunkt schon fest entschlossen und dann gibt es nur sehr wenig, was sie von der Umsetzung eines Entschlusses abhalten kann.
Bei Svenja änderte sich allerdings viel in der Vorbereitungszeit. Sie fand viele neue Freunde, entdeckte ihr Hobby: das Tanzen und fand innerhalb von kurzer Zeit darin so viel von dem, was sie lange gesucht hatte, dass ihr der Abschied sehr schwer fiel.
Auch für mich war es ein anderes Loslassen. Sehr häufig hatte ich wirkliche Sehnsucht und Heimweh nach ihr. Wir schrieben uns ganz viele Briefe. So hatte ich äußerlich viel mehr einen Eindruck von den drei Monaten ihrer Abwesenheit, war aber doch immer gespannter als die Zeit der Rückkehr nahte: Wie wird es ihr gehen? Wie hat sie sich verändert? Wie wird sie ihr Leben hier wieder aufgreifen? Das eine Veränderung stattgefunden hatte, war mir schon in den Briefen deutlich geworden.
Zurück kam dann eine selbstbewußte Svenja, die noch mehr als früher ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nimmt, die ihren Ehrgeiz nicht verloren hat und dazugelernt hat, dass sie manchmal die Dinge auch auf sich zukommen lassen muss und kann. Und sie hat gelernt, viel besser für sich zu beurteilen, was wichtig ist und was unwichtig.
Kurz gesagt: Sie hat eine große Menge an Lebenserfahrungen gewonnen, die ihr helfen, ihr Leben selbständig und klar in die Hand zu nehmen. Sie konnte der Begegnung mit sich selbst nicht ausweichen auf dieser Fahrt. Das war der Punkt durch den sie (wie auch Daniel) am meisten gelernt hat und was sie am weitesten in ihrer Entwicklung vorangebracht hat. Das ist in meinen Augen das, was am meisten zählt, neben all den vielen Dingen, die sie offensichtlich dazugelernt hat, von Kartenlesen bis besser englisch zu sprechen. Dieser Begegnung mit sich selbst - ganz schonungslos - entfliehen wir alle in der Regel in unserem Alltag. Nur zu gut kenne ich das von mir selbst und bin froh, dass Svenja und Daniel diese Lebenserfahrung machen konnten.
Vieles bleibt hier noch unbeleuchtet. Zum Beispiel die Erfahrungen und Auseinandersetzungen in der Gruppe, die für Svenja einen großen Teil ihres gewachsenen Selbstbewußtseins ausmachen. Die Veränderungen in den geschwisterlichen Beziehungen: Daniel wurde zum Fachberater und zum vertrauten Freund. Matthias erkannte, dass seine Schwester nicht mehr nur klein ist, sondern deutlich reift, erwachsener wird.
Vieles mehr noch............
Und alles fing damit an, dass ich Andi´s Artikel in der Erziehungskunst gelesen hatte und er Daniel mit auf seine Tour nahm.....
Danke!

Marita Bruns

Im Dezember 2002.
Mutter von Daniel, Matthias und Svenja,
Gartenbaulehrerin an der FWS Wiesbaden
Von-Frerichs-Str. 6
65191 Wiesbaden

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