Castlegar ist das östliche Tor zum Kettle Valley Railway (KVR).
Der englischsprachige Wegführer beschreibt den Anfang des Weges
als schwierig, aber mit so viel Schotter haben wir wirklich nicht
gerechnet. Selbst bei guter Technik und viel Krafteinsatz kommen
die Jungs und ich nur schwer vorwärts. Die Mädchen verschwinden
langsam hinter uns - sie sind auch sehr beschäftigt mit umfallen
und lachen - und fluchen. Nach einigen Kilometern wird die Strecke
besser, aber trotzdem verzieht sich Maltes Lowrider auf einer
Seite.
Langsam wird die Strecke sehr schön. Heute geht es 50km bergauf,
die Steigung beträgt durchgängig 2%. Zu unserer Rechten befindet
sich der Lower Arrow Lake und dies ist mit Sicherheit eine der
schönsten Ecken des KVR. Die Straße führt durch ein anderes Tal
und wir haben die Natur für uns. Leider gilt das auch wieder für
die Mücken. Beim Fahren geht es, aber es ist nervig, in Regenkleidung
und Goretex-Socken eingehüllt auf die Mädchen zu warten.
Ein besonderes Erlebnis wartet an einem der vielen Tunnel auf
uns. Er ist fast einen Kilometer lang, an einer Stelle komplett
dunkel und wir ziehen uns warm an und setzen uns in die Dunkelheit.
Die Aufgabe ist 20 Minuten in absoluter Stille zu verbringen.
Sobald jemand spricht, lacht, etc., beginnen die 20 Minuten von
neuem. Die Disziplin - oder Faszination - ist groß und es gelingt
sofort. Meine Uhr piept und alle dürfen sich wieder rühren und
sprechen. Es dauert aber noch einmal 15 Minuten, bevor jemand
die Stille bricht.
typische Brücke am Kettle Valley Railway
Unglaublich sind auch die Brücken. In Deutschland wären die alle
gesperrt, hier darf man selber entscheiden. Stabil sind sie, keine
Frage, aber ohne Geländer kann man bis zu 70 Meter im freien Flug
buchen. Interessanterweise bewegen sich fast alle sicherer mit
dem Fahrrad als Stütze. Mein Vorschlag, hier das Pirschen zu üben
- "mit den Füßen sehen", also Fuß aufsetzen ohne hinzusehen -
wird nicht angenommen.
Nach 2 Tagen kommen wir in die Kreisstadt Grand Forks - in British
Columbia gibt es vor allem Berge und tiefeingeschnittene Täler,
viele Pässe und wenig Menschen - wo die Übernachtungsfrage besonders
wichtig ist. Heute nacht spielt Deutschland im Achtelfinale gegen
Paraguay. Die Schüler können das Spiel aber nicht in einer Kneipe
verfolgen, da man diese erst mit 19 betreten darf. Da hilft auch
meine Erziehungsberechtigung nichts und die Bürger sind sehr gesetzestreu
- Kanada zeichnet sich dadurch aus, daß es weniger amerikanisch
und dafür britischer ist. Mir behagt dieser Wechsel nicht ganz
so und wenn ich an das Hinterland von New Mexico oder Montana
denke, dann wäre es kein Problem Fußball in einer Kneipe zu gucken.
Es ergibt sich aber keine Privatunterkunft und letztendlich gehe
ich zur einzigen Kneipe, bei der man vielleicht das Spiel verfolgen
kann. Meine Logik ist ganz einfach: Es wäre unheimlich schade,
wenn die Schüler das Spiel nicht sehen könnten. Alleine gucken
macht auch nicht halb soviel Freude. Aber es ist besser als nichts
und ich könnte berichten. Ich frage die blonde Bedienung (Mitte
20), ob das Spiel der Fußballweltmeisterschaft live in der Kneipe
zu sehen ist. Ihrer Antwort "Oh, the World Cup is taking place
in Grand Forks?" entgegne ich mühsam gefaßt, daß die Fußball WM
das größte Sportereignis der Welt ist, noch größer als die Olympischen
Spiele, und daß die WM nicht in Grand Forks stattfindet, sondern
in Asien (ich wollte sie nicht noch mit den Ländernamen verwirren).
Da muß sie ihren Chef fragen; die Antwort ist negativ.
WM Halbfinale
Nordamerika und Fußball, das sind weiterhin zwei verschiedene
Welten. Ich fahre zum Supermarkt zurück und die Jungs grinsen:
"Privatübernachtung! Mit Dusche, und einen Fernseher hat sie auch.
Wir haben allerdings nicht gefragt, ob wir das Spiel gucken können."
Das hört sich viel besser an. Wir fahren gleich hin - seit 5 Stunden
sind wir hier, die Mädchen lassen es mal wieder sehr ruhig angehen
- und die Frau ist wirklich sehr nett. Ich nähere mich dem Thema,
daß wir als Deutsche ein bißchen fußballverrückt sind, weil ja
die WM stattfindet, daß gegen Mitternacht ein ganz wichtiges Spiel
stattfindet, ob sie den passenden Sender empfangen kann, ob wir
das Spiel gucken können. Ihre Antwort ist köstlich: " Wenn ich
nicht dabei sein muß gerne. Ihr könnt auch jubeln wie ihr wollt,
ich schlafe sehr tief." Die Jungs haben das Gespräch verfolgt
und wir jubeln bereits jetzt zum ersten Mal. Vielleicht sind ja
auch unsere Rennfahrerinnen eingetroffen. Ich treffe sie tatsächlich
am Supermarkt, strahlend, denn sie haben einen privaten Übernachtungsplatz
mit Fußball gucken! Ihre Gastgeberin in spe ist auch da und eine
gute Freundin unserer Gastgeberin. Na prima, da können wir ja
zwei Tage in Grand Forks bleiben, denn ein Ruhetag wird uns gut
tun und morgen gibt es auch noch spannende Achtelfinalspiele.
.........
Steve ist ein Freund von Laury und Tom, bei denen wir gerade
das Halbfinale gesehen haben. Steve hat eine 125 PS starkes Boot
und mit Freunden zusammen eine Hütte am Pitt Lake, die man nur
mit dem Boot erreichen kann. Ob wir nicht noch einen Tag bleiben
und zur Hütte rausfahren wollen? Die Zeit haben wir - schließlich
haben wir dann die Straße doch dem KVR vorgezogen und sind entsprechend
schneller vorwärtsgekommen - und das Angebot hört sich traumhaft
an. Wir wollen auch noch eine Party feiern, die hat es bisher
auf jeder Fahrt gegeben, das paßt alles zusammen. Wir kaufen noch
Getränke und ab geht es. Die Fahrt ist spannend, denn auf dem
Fluß treiben viele Holzstämme, denen Steve geschickt ausweicht.
Als wir ankommen, ist allerdings keine Hütte zu sehen - aber ein
Haus mit Veranda direkt am Strand.
Steve fragt nach zwei mutigen Freiwilligen. Das sind natürlich
Raphael und Malte. Sie ziehen sich Thermoanzüge an, setzen sich
in aufgeblasene Wasserreifen und wir anderen ins Boot. Die Verbindung
stellt ein Seil dar und Steve beschleunigt auf bis zu 65km. Schon
das Zusehen macht unglaublich viel Spaß, wir lachen und jubeln,
während die strahlenden Gesichter der Jungs zu uns rüberscheinen.
Manchmal geht einer hops, dann wird es kurz mal ruhig. Nach einiger
Zeit dürfen Julchen und Svenska ran. Jetzt wird es noch lauter,
denn die beiden kreischen fast ohne Unterbrechung. Steve fährt
nicht mehr ganz so schnell, aber es reicht. Dann geht es zu einer
kleinen Insel mit Schwungseil, weil es zu dunkel wird für die
Fahrt mit den Autoreifen. Pola und ich durften noch nicht, aber
morgen ist auch noch ein Tag.
Gegessen wird auf der Veranda oder am Strand. Der ist so klein,
keine 3 Meter bis zum Wasser, aber immerhin. Da steht auch ein
großes altes Sofa und wir machen ein Lagerfeuer. Langsam kommt
die Flut - dieser Süßwassersee in der Nähe des Pazifiks hat Tidenhub
- löscht das Feuer und wir tragen das Sofa an die Böschung. Das
Wasser steigt trotzdem fast bis auf Sitzhöhe. Uns macht das aber
nichts, wir kommen uns vor wie im Film, so schön ist das hier,
und Bier und Wein haben natürlich auch eine Wirkung.
herzliche Gastgeber
Nur noch wenige Tage bis zum Rückflug. Unsere Übernachtung in
Vancouver schien gesichert, da mich Pat und Paul letztes Jahr
auf dem Jakobsweg eingeladen haben, sie mit meiner Gruppe zu besuchen.
Dummerweise haben die beiden sich vor ein paar Monaten getrennt
und das Haus verkauft - vor allem dumm für die Ehe, wir finden
auch so unseren Weg. In einem Wohngebiet mit großen Gärten schellen
wir, erzählen unsere Geschichte und fragen nach einer Zeltmöglickeit
im Garten. Es dauert ein, bis wir bei der Familie Rempel nachfragen.
Ursprünglich Deutsche, aber in Südamerika aufgewachsen, eine Familie
mit 4 mehr oder weniger erwachsenen Söhnen, gewähren sie uns ihren
Garten für eine Nacht. Wir brauchen vier Nächte, aber ein Anfang
ist gemacht.
Die Familie ist äußerst hilfsbereit. Es werden Planen an der
Hauswand befestigt, so daß die Zelte, Tische und Stühle nicht
naß werden - es regnet den ganzen Tag. Außerdem dürfen wir duschen.
Peter, der Hausherr, spricht mit den Schülern, später mit mir,
möchte mehr erfahren. Wir sind keine drei Stunden da und schon
sind wir eingeladen bis zum Abflug zu bleiben. Es wird eine schöne
Zeit. Natürlich stehen Einkäufe und Modenschauen auf dem Programm,
Vancouver ist eine interessante Stadt und wir verbringen Zeit
mit der Familie, jeder wie er will, sei es Kartenspiele, Video,
Kirchenbesuch bei den Mennoniten oder Melonenkernweitspucken.
Am letzten Tag werden wir auf ein letztes, großes Barbecue eingeladen,
dann verabschieden wir uns herzlich und Peter fährt unsere Fahrradkartons
zum Flughafen. Wir fahren auf unseren Fahrrädern und alle schaffen
es damit die gesamte Tour zu fahren!
Abschluß einer jeden Fahrt: Modenschau
Also übernachten wir wieder am Flughafen, so wie alles anfing.
Morgen ist die Fahrt schon wieder vorbei. Glücklicherweise haben
Svenskas Eltern alle zu sich nach Hause zum Brunchen eingeladen.
Der Abschied wird schwer werden, erst von Nordamerika, dann von
einander.
|